Das Schweigen des Sammlers
dem anschließenden Klirren, dass die Mittelscheibe der Glastür herausgesprungen und zu Bruch gegangen war.
Das alles und noch mehr Einzelheiten, die mir jetzt nicht einfallen, habe ich erst wesentlich später erfahren. Allerdings weiß ich noch, dass ich bereits ziemlich schwierige Texte auf Deutsch und Englisch lesen konnte; mein Sprachtalent galt als unheimlich. Für mich war es zwar das Normalste von der Welt, doch wenn ich mich umschaue, muss ich zugeben, dass mir Sprachen sehr leicht fallen. Französisch war kein Problem, und Italienisch lesen, wenn auch falsch betont, ging fast von selbst. Und das Latein aus De bello gallico , dazu Katalanisch und Spanisch. Ich hätte gern mit Russisch oder Aramäisch angefangen, aber Mutter kam in mein Zimmer und sagte, kommt nicht in Frage. Mit den Sprachen, die ich könne, sei es genug, ich müsse auch noch andere Dinge im Leben tun, als eine Sprache nach der anderen zu lernen wie ein Papagei.
»Mutter, Papageien …«
»Ich weiß. Und du weißt, was ich meine.«
»Das weiß ich nicht.«
»Dann streng dich mal an.«
Ich strengte mich an. Die Wende, die sie meinem Lebengeben wollte, machte mir Angst. Offensichtlich wollte sie Vaters Spuren aus meiner Erziehung tilgen. Darum holte sie die Storioni aus dem Tresor, wo sie von einer neuen Zahlenkombination geschützt war, die nur meine Mutter kannte und die sieben zwei acht null sechs fünf lautete, überreichte sie mir und erklärte, Anfang des nächsten Monats verlässt du das Konservatorium und Senyoreta Trullols und wirst Schüler von Joan Manlleu.
»Was?«
»Du hast ganz richtig verstanden.«
»Wer ist Joan Manlleu?«
»Der beste. Jetzt beginnt deine Karriere als Geigenvirtuose.«
»Ich will kein Vir…«
»Du weißt nicht, was du willst.«
Darin irrte meine Mutter; ich wusste, ich wollte … nun ja, nicht dass mich der Alltag meines Vater gereizt hätte, immerzu lesen, was in der Welt geschrieben wurde, kulturell auf dem Laufenden sein, über Kultur nachdenken. Nein, eigentlich reizte mich das nicht. Aber ich las gern, und ich lernte gern neue Sprachen und … Also gut, meinetwegen, ich wusste nicht, was ich wollte. Aber ich wusste, was ich nicht wollte.
»Ich will kein Geigenvirtuose werden.«
»Maestro Manlleu sagt, du hast das Zeug dazu.«
»Und woher will er das wissen? Hat er magische Kräfte?«
»Er hat dich gehört. Einige Male beim Üben.«
Wie sich herausstellte, hatte Mutter meine Übernahme durch Joan Manlleu sorgsam eingefädelt, um den Meister zur Einwilligung zu bewegen. Sie hatte ihn zum Nachmittagskaffee eingeladen, wenn ich Geige übte, und sie hatten, ganz diskret, wenig gesprochen und viel gelauscht. Maestro Manlleu erkannte schnell, dass er verlangen konnte, was er wollte, und tat das auch. Mutter engagierte ihn ohne Murren. Nur hatte sie in der Eile nicht daran gedacht, Adrià nach seinem Einverständnis zu fragen.
»Und was soll ich der Trullols sagen?«
»Senyoreta Trullols weiß schon Bescheid.«
»Ach ja? Und was meint sie dazu?«
»Dass du ein ungeschliffener Diamant bist.«
»Ich will nicht. Ich kann das nicht. Ich will mich nicht quälen. Nein. Ganz entschieden und unwiderruflich: nein und nein und nein.« Es war eines der wenigen Male, die ich meine Mutter anschrie: »Verstanden, Mutter? Nein!«
Im folgenden Monat nahm ich den Unterricht bei Maestro Manlleu auf.
»Aus dir wird ein großer Geiger und damit basta«, hatte meine Mutter gesagt, als ich sie überredete, die Storioni vorsichtshalber im Haus zu lassen und mich mit der neuen Parramon losziehen zu lassen. Adrià Ardèvol schickte sich ergeben in seine zweite Bildungsreform. Irgendwann fing er an, vom Ausreißen zu träumen.
12
Nach dem Tod meines Vaters ging ich lange nicht zur Schule. Ich verbrachte auch ein paar sehr sonderbare Wochen in Tona bei meinen Vettern, die sich ungewöhnlich still verhielten und mich aus dem Augenwinkel beobachteten, wenn sie glaubten, ich bekäme es nicht mit. Und einmal hörte ich Xevi und Quico über Enthauptungen diskutieren, mit gedämpfter Stimme, aber so hitzig, dass ihre Stimmen bis in den letzten Winkel drangen. Dazu kam, dass Rosa mir beim Essen immer das größte Stück auf den Teller legte, bevor es sich einer ihrer Brüder schnappen konnte. Und Tante Leo fuhr mir zigmal am Tag durch die Haare, und ich dachte, warum kann ich nicht für immer bei Tante Leo in Tona bleiben, weit weg von Barcelona, als wäre das Leben an diesem magischen Ort, wo man sich die Knie dreckig
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