Das Schweigen des Sammlers
sie mir nackt vor. Das lagaber an dem Klang, den sie der Geige entlockte, so schön, so … Mein ganzes Leben lang habe ich die Dinge durcheinandergebracht. Ich sage das nicht mit Stolz, eher mit stiller Resignation. So fest ich es mir auch vornehmen mochte, nie ist es mir gelungen, getrennte Fächer einzurichten, alles geriet und gerät mir durcheinander, wie jetzt auch, während ich dir schreibe und die Tränen meine Tinte sind.
»Keine Sorge, Adrià«, sagte die Trullols und zauste mir das Haar. »Manlleu ist ein sehr guter Geiger.« Und zum Abschied ließ sie mich den langsamen Satz aus der ersten Sonate von Brahms spielen, und als ich fertig war, küsste sie mich auf die Stirn. So war die Trullols. Und mir fiel nicht auf, dass sie gesagt hatte, Manlleu sei ein sehr guter Geiger, und nicht, keine Sorge, Adrià, Manlleu ist ein sehr guter Lehrer. Und Bernat machte ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter und bemühte sich, nicht loszuheulen. Mir dagegen rollten drei oder vier Tränen übers Gesicht. Mein Gott. Vermutlich weil das alles so traurig war, sagte Adrià, als sie vor Bernats Haus standen, er wolle ihm die Storioni schenken, und Bernat fragte, im Ernst? Und Adrià, natürlich, damit du ein schönes Andenken an mich hast. Im Ernst?, wiederholte der andere ungläubig. Und Adrià, verlass dich drauf. Und was wird deine Mutter sagen? Die ist viel zu beschäftigt. Sie verbringt den ganzen Tag im Laden. Und am folgenden Tag kam Bernat mit wild klopfendem Herzen nach Hause, bumm, bumm, bumm, wie die Kirchenglocken mittags um zwölf zu Mariä Empfängnis, und als er vor seiner Mutter stand, sagte er, Mama, ich habe eine Überraschung. Und er öffnete den Geigenkasten, und Senyora Plensa roch das unverwechselbare Aroma einer Antiquität und fragte ein wenig beklommen, wo hast du denn diese Geige her, mein Sohn? Und er antwortete, gleichmütig wie Cassidy James, als Dorothy ihn fragt, wo er dieses Pferd herhabe: »Das ist eine sehr lange Geschichte.«
Und Fèlix hatte recht. Europa stank nach Pulverdampf und Trümmern, und Rom noch mehr. Er ließ einen amerikanischen Jeep vorbei, der holpernd durch die Schlaglöcher bretterte und an keiner Kreuzung bremste, und ging schnellenSchrittes zur Basilika Santa Sabina. Dort übermittelte ihm Morlin die Nachricht: Ufficio della Giustizia e della Pace. Der Pförtner, ein gewisser Signor Falegnami. Und Vorsicht, er könnte gefährlich werden.
»Gefährlich? Wieso?«
»Weil er nicht der ist, der er zu sein scheint. Aber er steckt in Schwierigkeiten.«
Fèlix Ardèvol fand das lose mit dem Vatikan verbundene Amt im Stadtteil Borgo am Rand von Vatikanstadt auf Anhieb. Ein fettleibiger, großer Mann mit dicker Nase und unstetem Blick öffnete ihm die Tür und fragte, wen er suche.
»Sie, fürchte ich. Signor Falegnami?«
»Warum fürchten Sie das? Haben Sie Angst vor mir?«
»Das ist nur so eine Redensart.« Fèlix Ardèvol versuchte zu lächeln. »Wie ich höre, haben Sie etwas Interessantes für mich.«
»Um sechs Uhr abends schließen wir das Büro«, sagte der Mann und nickte zur Glastür hinüber, durch die mattes Licht fiel. »Warten Sie draußen.«
Um sechs kamen ein paar Männer heraus, einer in Soutane, und Fèlix fühlte sich wie bei einem Geheimtreffen. Wie bei seinem früheren Aufenthalt in Rom vor vielen Jahren, als es noch Illusionen und Träume gab und ihn die Äpfel in Signor Amatos Obstladen ans irdische Paradies erinnerten. Da streckte der Mann mit dem unsteten Blick den Kopf heraus und winkte ihm.
»Gehen wir nicht zu Ihnen nach Hause?«
»Ich wohne hier.«
Sie stiegen eine majestätische, düstere Treppe hinauf, der Mann keuchte vor Anstrengung, und ihre Schritte hallten durch das seltsame Gebäude. Im dritten Stock gingen sie durch einen langen Korridor, und der Mann öffnete eine Tür und schaltete ein funzeliges Licht an. Ein muffiger Geruch schlug ihnen entgegen, der Fèlix Ardèvol den Atem nahm.
»Hereinspaziert«, sagte der Mann.
Ein schmales Bett, ein Schrank aus dunklem Holz, ein zugemauertes Fenster und ein Waschbecken. Der Mann öffneteden Schrank und holte einen Geigenkasten heraus. Er benutzte das Bett als Tisch und klappte den Kasten auf. Da sah Fèlix Ardèvol sie zum ersten Mal.
»Es ist eine Storioni«, sagte der Mann mit dem unsteten Blick.
Eine Storioni. Fèlix Ardèvol sagte der Name nichts. Er wusste nicht, dass Lorenzo Storioni, als sie fertig war, ihre Decke gestreichelt und gespürt hatte, wie sie erschauerte, und dann
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