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Das Schweigen des Sammlers

Das Schweigen des Sammlers

Titel: Das Schweigen des Sammlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jaume Cabré
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machen durfte, ohne dass jemand schimpfte, ein immerwährender Sommer. Und wenn Onkel Cinto heimkam, bedeckt vom Staub der Scheune, von Schlammspritzern und Mist, hielt er den Blick gesenkt, aber es war ihm anzusehen, wie schwer ihn der Tod seines Bruders getroffen hatte. Sein Tod und die Umstände seines Todes.
    Nach meiner Rückkehr, während sich das Unwetter in Gestalt von Maestro Manlleu über meinem Leben zusammenbraute, ging ich wieder in die Schule und hatte meinen ersten Auftritt als Halbwaise. Bruder Climent begleitete mich bis vors Klassenzimmer, seine schnupftabakgelben Fingern schmerzhaft in meine Schulter gekrallt, was seine Art war, mir seine Zuwendung, sein Mitgefühl und sein Beileid auszudrücken, und als wir vor der Tür standen, sagte er mit großmütiger Geste, ich solle nur hineingehen, es mache nichts, dass der Unterricht schon angefangen habe, der Lehrer wisse Bescheid, und ich betrat das Klassenzimmer, und dreiundvierzig Augenpaare blickten mir neugierig entgegen, und SenyorBadia, der gerade den feinen Unterschied zwischen direktem und indirektem Objekt erklärte, wie ich seinem letzten, abgebrochenen Satz entnehmen konnte, hielt inne und sagte, komm, Ardèvol, setz dich. An der Tafel stand: Juan schreibt einen Brief an Pedro. Ich musste den gesamten Raum durchqueren, um zu meiner Bank zu gelangen, und schämte mich sehr. Ich wäre froh gewesen, wenn Bernat in meine Klasse gegangen wäre, aber das war unmöglich, weil er schon in die zweite Klasse ging und ich mich noch in der ersten langweilte und mir diesen Blödsinn über direkte und indirekte Objekte anhören musste, den sie uns auch in Latein erklärten und den einige meiner Mitschüler erstaunlicherweise noch immer nicht begriffen hatten. Was ist das direkte Objekt, Rull?
    »Juan.« Pause. Senyor Badia blieb ungerührt. Rull, argwöhnisch, eine Falle fürchtend, dachte angestrengt nach und hob dann den Kopf: »Pedro?«
    »Nein. Falsch. Du hast nichts kapiert.«
    »Ah, nein! Schreibt!«
    »Setz dich, Dummkopf.«
    »Jetzt weiß ich’s! He, Senyor Badia, jetzt weiß ich’s: Es ist der Brief! Stimmt’s?«
    Als die Sache mit dem direkten Objekt umfassend geklärt war und wir uns ins Dickicht des indirekten Objekts begaben, spürte ich, dass mich vier oder fünf Jungen seit einer Weile anstarrten. Wegen der Anordnung der Pulte wusste ich, dass es Massana, Esteban, Riera, Torres, Escaiola, Pujol und möglicherweise Borrell waren, weil es mich im Nacken juckte. In ihren Augen stand … Bewunderung? Eher eine unbestimmbare Mischung.
    »Komm, Kleiner …«, sagte Borrell in der Pause auf dem Hof, »spiel mit.« Und um einem Fiasko vorzubeugen: »Halt dich in der Mitte und behindere die Gegner, in Ordnung?«
    »Ich mag Fußball nicht.«
    »Siehst du?«, sagte sofort Esteban, der zur selben Clique gehörte. »Ardèvol steht auf seine Geige. Ich hab dir doch gesagt, das ist eine Schwuchtel.«
    Und er rannte davon, weil die Partie schon ohne die Clique begonnen hatte. Borrell klopfte mir resigniert den Rücken und verzog sich stumm. In dem Gewimmel aus Erst-, Zweit- und Drittklässlern, die sich den Hof streifenweise aufgeteilt hatten, zwölf verschiedene Partien spielten und fast nie die Bälle verwechselten, hielt ich Ausschau nach Bernat. Schwuchtel, blöde Schwuchtel. Schwuchteln heißt auf Altdeutsch herumspringen, tanzen, und ich bin sicher, Esteban kann kein Deutsch.
    »Schwuchtel?« Bernat ließ den Blick nachdenklich in die Ferne schweifen, ohne sich vom Geschrei der übermütigen Fußballspieler stören zu lassen. »Nein. Schlag’s doch im Lexikon nach. Ich hab keine Lust, dir alles zu erklären, was du …«
    »Weißt du, was es heißt, oder weißt du es nicht?«
    In jenen Tagen war es sehr kalt, und alle hatten Frostbeulen an Händen und Beinen, außer Bernat und mir, die wir auf Anweisung der Trullols immer Handschuhe trugen, weil das Geigespielen mit Frostbeulen zu einer unerträglichen Tortur wurde. Ob man mit Frostbeulen an den Beinen Geige spielen konnte, stand allerdings nie zur Debatte.
    Die ersten Schultage nach Vaters Tod waren etwas Besonderes. Vor allem, nachdem Riera in aller Offenheit vom Kopf meines Vaters gesprochen hatte, was mir offenbar ein Prestige verlieh, bei dem kein anderer mithalten konnte. Sie verziehen mir sogar meine Noten, und ich wurde einer von ihnen. Und wenn ein Lehrer etwas fragte, sagte Pujol nicht mehr, für die Antworten ist Ardèvol zuständig, sondern alle guckten unbeteiligt in die Luft, bis

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