Das Schweigen
Taucher die Leiche
eines Menschen fanden, dessen Namen sie inzwischen
kannten. Vermutlich.
Kimmo stellte das Glas ab und spürte, was ihn wach
hielt. Zum ersten Mal an diesem Tag fand er die Zeit,
überhaupt konzentriert über das nachzudenken, was
passiert war. Er musste morgen mit Ketola sprechen,
Ketola würde ihnen möglicherweise helfen können.
Wobei auch immer.
Als Grönholm vorhin von einem möglichen Scherz
gesprochen hatte, hatte er in Gedanken zugestimmt.
Ein Scherz, oder wie immer man das nennen wollte, er-
schien einerseits absurd, aber noch absurder war die
Vorstellung, ein Täter habe dreiunddreißig Jahre nach
der Tat das gleiche Verbrechen am selben Ort noch ein-
mal begangen.
Da sich inzwischen herauskristallisierte, dass Si-
nikka Vehkasalo verschwunden war, hatte sich die Idee
eines Scherzes erledigt. Am wahrscheinlichsten er-
schien Joentaa ein Nachahmungstäter. Was immer die-
sen Täter dreiunddreißig Jahre später dazu veranlasst
haben konnte. Er war möglicherweise auf das Kreuz an-
gesprungen, auf die Beharrlichkeit, mit der es an Pia Leh-
tinen erinnert hatte, irgend etwas hatte dieses Kreuz in
ihm ausgelöst...
Wenn der Täter tatsächlich die damaligen Ereignisse
von neuem ablaufen lassen wollte, würde es Monate
dauern, bis sie die Leiche von Sinikka Vehkasalo finden
würden, denn auch nach Pia Lehtinen hatten sie
Monate lang gesucht. Dann endete die Parallele ganz
einfach aus pragmatischen Gründen, der Täter von
heute wusste, dass sie früher oder später den See von
damals absuchen würden, und hatte deshalb einen
anderen Fundort gewählt, einen, auf den die Ermittler
erst wesentlich später stoßen sollten.
Andererseits, wenn es dem Täter, aus welchen Grün-
den auch immer, um eine Wiederholung ging, um eine
Wiederkehr dessen, was damals passiert war, blieb eine
merkwürdige Abweichung in einem entscheidenden
Punkt ... vorausgesetzt, sie fanden die Leiche nicht doch
noch morgen in dem See.
Joentaa erhob sich abrupt, genervt von seinen eigenen
Spekulationen, die zu nichts führten, während in dem
hellgrünen Haus in Halinen Ruth und Kalevi Vehka-
salo aus Sorge um ihre Tochter nicht schlafen konnten.
Er wendete sich vom See hinter dem Fenster ab, sein
Blick fiel auf die beiden Fotos auf dem Bücherregal. Sie
hatten immer da gestanden, seitdem sie hier eingezogen
waren, Joentaa hatte sie in den Wochen nach Sannas
Tod entfernt und nach einiger Zeit an ihren Platz zu-
rückgestellt.
Er stand auf und betrachtete die Fotos aus der Nähe.
Ein Bild zeigte Sanna als kleines Kind, das Datum auf
der Rückseite verriet, dass sie damals zwei Jahre alt
gewesen war. Sanna hatte soeben ihrer Mutter Merja
einen Keks aus der Hand geschlagen, der Keks flog in
hohem Bogen Richtung Kamera, Merja hatte den
Mund weit aufgerissen, und Sanna sah zutiefst wütend
aus, vermutlich, weil ihre Mutter es gewagt hatte, diesen
Keks essen zu wollen, ohne ihr etwas davon abzugeben.
Jussi, Sannas Vater, musste in dem Moment, in dem er
den Auslöser drückte, gezuckt haben, denn das Bild war
leicht verwackelt. Ein wunderbares Bild. Kimmo fühlte
ein Lächeln auf seinem Gesicht.
Das andere Foto war wenige Monate, vielleicht sogar
nur Wochen, vor der Krebsdiagnose gemacht worden.
Als alles noch in bester Ordnung gewesen war. Sanna
hatte gerade begonnen, als Architektin zu arbeiten. Das
Foto zeigte sie vor ihrem Schreibtisch stehend, Kimmo
erinnerte sich, dass sie dieses Foto unbedingt hatte
machen wollen, sie hatten einen Abzug an ihre Eltern
geschickt. Ihr Gesichtsausdruck verriet Stolz und Zu-
friedenheit. Und die Gewissheit, dass alles so gut weiter-
gehen würde. Kimmos Blick wanderte von Bild zu Bild
und blieb irgendwann an dem kleinen Mädchen hän-
gen, das seiner Mutter einen Keks aus der Hand schlug.
Sanna.
Sanna ein laufender Meter mit roten Backen.
Er ging ins Badezimmer, wusch sich und lag an-
schließend lange wach, auf dem Rücken, mit geöffneten
Augen.
7
Timo Korvensuo hörte Marjatta neben sich langsam
und regelmäßig atmen. Sie hatte die Decke fest um sich
geschlungen. Es sei ein schöner Abend gewesen, hatte
sie gesagt, kurz bevor sie eingeschlafen war.
Eine Weile hatte Timo Korvensuo durch das geöff-
nete Fenster leise das Gekicher seiner Kinder gehört,
Aku und Laura schliefen unten am See im Zelt. Inzwi-
schen waren auch ihre Stimmen verstummt, und das
einzige, was er hörte, war das Summen von
Weitere Kostenlose Bücher