Das Schweigen
Stechmü-
cken.
Er fühlte sich noch immer merkwürdig leicht.
Schwerelos. Die Gäste waren lange geblieben. Sie hatten
den Abend genossen, die Wärme, die helle Nacht, die
Kinder hatten gespielt, Arvi hatte Geschichten erzählt,
Marjatta, Johanna und selbst Pekka hatten laut durch-
einander geredet und sich prächtig amüsiert.
Vielleicht hatte die Nachricht vom Verschwinden des
Mädchens in Turku sogar dazu beigetragen, vielleicht
hatten alle nach einer Weile des Darüber-Redens nur
um so stärker das Gefühl verspürt, selbst in allerbesten
Verhältnissen zu leben ... in Sicherheit zu sein ... etwas in der Art.
Timo Korvensuo fühlte eine vage Zufriedenheit da-
rüber, dass er die anderen durchschaute. Obwohl es na-
türlich ganz unerheblich war. Er schweifte ab, er ent-
fernte sich von etwas, dem er noch nicht nah gekommen
war, obwohl er sich die ganze Zeit ausschließlich darauf,
auf dieses Bestimmte, zu konzentrieren versuchte.
Natürlich war es wichtig.
Etwas Wichtiges war passiert.
Es fiel ihm schwer, es in Gedanken auszuformulie-
ren, es auf den Punkt zu bringen.
Er hatte zu viel getrunken, er vertrug ja nichts, er
trank ja sonst nie. Er fühlte sich müde und gleichzeitig
hellwach, er konnte die Augen kaum noch offenhalten,
aber auch nicht mehr schließen, denn sobald er das tat,
strömte ein Schwall von Schwindel in sein Hirn, der
unmittelbar einen schwer zu kontrollierenden Brechreiz
auslöste.
Er erwog, ins Badezimmer zu gehen und sich zu
erbrechen, danach würde es sicher besser werden, vor
allem würde er wieder einen klaren Kopf bekommen,
und er brauchte einen klaren Kopf.
Er blieb liegen. Er dachte darüber nach, wie oft er sich
in seinem Leben übergeben hatte. Nicht oft. Er konnte
das nicht, hatte das nie gekonnt. Ein einziges Mal hatte
er wirklich richtig gekotzt, hatte alles aus sich heraus gekotzt, bis der ganze Teppich von seinem Mageninhalt
bedeckt gewesen war, als Kind, er erinnerte sich genau,
ein Reisgericht, Reis und Curry, das ihm sehr gut ge-
schmeckt hatte.
Und ein zweites Mal, daran erinnerte er sich in die-
sem Moment, diese Erinnerung war bis vor einer Se-
kunde verschüttet gewesen, aber jetzt stand sie ihm vor
Augen. Er hatte mit Freunden eine Fahrradtour unter-
nommen, und einer hatte ständig roten Fuselwein in
Pappbecher gegossen, und er hatte bereits am frühen
Abend das Bewusstsein verloren, der einzige Filmriss
seines Lebens. Er hatte deshalb auch den Vorgang als
solchen gar nicht miterlebt, er hatte nur am Morgen ge-
rochen und klitschnass gespürt, was an seinem Schlaf-
sack hing.
Seitdem war es ihm nie wieder passiert, und es würde
ihm auch heute nicht passieren, denn er würde
liegenbleiben, er würde sich keinen Zentimeter weit
fortbewegen. Nicht bewegen. Einige Mücken summten.
Marjatta schlief ruhig, fast unhörbar, sicher hatte sie
am wenigsten von allen getrunken, genau die Menge,
die sie vertrug.
Korvensuo versuchte, sich zu konzentrieren, aber es
war unmöglich. Seine Gedanken kreisten, und sein
Hirn bestand aus Watte.
Er hatte Kopfschmerzen, schlimme Kopfschmerzen,
schlimm wie lange nicht. Deshalb würde er jetzt doch
aufstehen müssen, er benötigte Tabletten, mehrere auf
einmal, um diesen Schmerz zu tilgen, der plötzlich be-
gonnen hatte, sich in sein, wie er fand, flauschiges Wat-
tehirn hinein zu bohren. Aufstehen.
Er fühlte sich wankend laufen, im Hintergrund Mar-
jattas Stimme, er hörte nicht, was sie sagte, er hörte nur sich selbst etwas grunzen: »Schlaf weiter!«, war es wohl.
»Schlaf weiter!«
Er stand am Kühlschrank, er hielt die Tür in der
Hand, stützte sich mit dem anderen Arm auf der Ar-
beitsplatte ab und starrte die mit eiskaltem Wasser ge-
füllte Flasche an, die er gleich in einem schnellen, end-
gültigen Zug trinken würde. Sobald er die Kraft dazu
fand und vor allem die Tabletten.
Er wandte sich ab und kramte in einer Schublade.
Der Schwindel nahm wieder zu. Seine Hände zitterten.
Er fand eine Packung und versuchte eine Weile
erfolglos, die Tabletten herauszunehmen.
Als er sich aufrichtete, kehrte der Brechreiz zurück.
Er starrte den Wasserhahn an. Er zerrte und riss an der
Verpackung, bis endlich drei Tabletten in seinen Händen
lagen. Er ließ sie im Mund ein wenig zergehen, bevor er
die Flasche nahm und das kalte Wasser in seinen Rachen
kippte. Er hatte das Gefühl, sein Kopf sei nun bereit zu
platzen.
»Schlimm?« hörte er Marjattas Stimme
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