Das Schweigen
Papa!«
»Entschuldige ...«, murmelte Korvensuo, während
sein Sohn schon wieder an den See hinunter rannte.
4
Am Abend sah Kimmo Joentaa durch das Küchenfens-
ter Pasi und Liisa Laaksonen, das ältere Ehepaar, das im
Nachbarhaus wohnte. Pasi trug die Angel über der
Schulter, in Liisas Hand baumelte der Korb für die
Fische.
So war es auch am Morgen nach Sannas Tod gewesen.
Kimmo sah die beiden oft, und jedes Mal, wenn er sie
sah, dachte er an Sanna, denn das Bild, Pasi und Liisa
mit der Angel und dem Korb, hatte sich eingebrannt.
Pasi und Liisa hatten ihn damals durch die Scheibe
hindurch erkannt und ihm zugewinkt, und genau das
taten sie auch jetzt. Dieses Mal winkte Kimmo zurück,
damals hatte er reglos gestanden. Dieses Mal kamen sie
vom See, damals waren sie erst hinunter gegangen. Und
damals waren sie am Abend gekommen, um Sanna und
ihm einige ihrer Fische zu schenken. Kimmo hatte die
Folie mit den Fischen kalt in seinen Händen gespürt,
Pasi und Liisa erwartungsvoll lächeln sehen und den
beiden mitgeteilt, dass Sanna in der Nacht gestorben
war. Auch diesen Moment, den Moment, in dem das,
was er sagte, in die beiden eingedrungen war, hatte er
nicht vergessen.
Vor einigen Monaten hatte Pasi Laaksonen einen
leichten Infarkt erlitten. Liisa war am Abend zu Joentaa
gekommen, und sie hatten eine Weile geredet. Liisa
hatte geweint, und Kimmo hatte nicht gewusst, wie er
sich verhalten sollte, wie er sie hätte trösten sollen, aber Liisa hatte sich am Ende für das Gespräch bedankt. Pasi
war schon nach einigen Tagen wieder fischen gegangen.
Kimmo starrte aus dem Fenster. Vermutlich würde
bald Pasi klingeln, um ihm Fische zu schenken.
Er betrachtete eine Weile den mehrfach eingerissenen
Karton, der im Flur stand. Die Akten von damals. Er
hatte den Karton mitgenommen, weil er gespürt hatte,
dass er ohnehin nicht würde schlafen können. Sund-
ström hatte die Stirn gerunzelt, aber nichts weiter ge-
sagt.
Sie hatten die Leiche von Sinikka Vehkasalo auch an
diesem Tag nicht gefunden. Sie hatten zwei Team-
besprechungen gehabt, hatten Aufgabenbereiche abge-
steckt, Aufgaben verteilt und zum Teil bereits erfüllt.
Inzwischen arbeiteten rund dreißig Ermittler an
dem Fall, die meisten waren Streifenpolizisten oder
vorübergehend von anderen Abteilungen abgezogen
worden. Sundström hatte diese vergleichsweise große
Gruppe gut koordiniert und es verstanden, mit einer
klaren, selbstsicheren Ansprache eine effektive Grund-
stimmung zu erzeugen.
Die meisten waren vermutlich jetzt noch unterwegs,
um Menschen im Umfeld der Vehkasalos, Nachbarn,
Bekannte, Verwandte, Freundinnen und Freunde, zu
befragen oder deren Aussagen zu Papier zu bringen und
gegenzulesen, Menschen, die bislang, so weit das zum
jetzigen Zeitpunkt zu überblicken war, nichts Weiter-
führendes hatten beisteuern können.
Den Ermittlern der Kerngruppe, Heinonen, Grön-
holm und Joentaa, hatte Sundström nach einer letzten
längeren Besprechung mit einem Anflug von Pathos
oder vielleicht doch eher Ironie oder einfach nur ganz
ernsthaft einen erholsamen Feierabend verordnet.
Kimmo Joentaa hatte den Karton genommen und war
gegangen. Er hatte bereits den größten Teil des Tages
damit verbracht, die alten Akten zu lesen in der Hoff-
nung, Details einer dreiunddreißig Jahre zurückliegen-
den, gescheiterten Ermittlung in einen neuen Zusam-
menhang stellen zu können.
Er hatte Sundström gesagt, dass er sich zunächst in-
tensiv mit diesem Aspekt der Ermittlung befassen wolle,
ohne zu wissen, warum. Vermutlich wollte er einfach
am Anfang beginnen. Wenn es denn der Anfang war.
Wenn es überhaupt einen Zusammenhang gab. Die
Akten umfassten mehrere tausend Seiten. Kimmo hatte
in vergilbenden Ordnern geblättert und war immer wie-
der über Ketolas Handschrift gestolpert, unleserliche
Notizen an Seitenrändern. Ab und zu Ausrufezeichen
an Stellen, die Kimmo nicht einleuchteten.
Sundström hatte zwischenzeitlich einige Male nach
Ketola gefragt, weil er mit ihm sprechen wollte, aber Ke-
tola war nicht mehr aufgetaucht und auch telefonisch
bis zum Abend nicht zu erreichen gewesen. Kimmo
erwog, es jetzt noch einmal zu versuchen, aber etwas
hielt ihn davon ab.
Stattdessen nahm er einen Ordner aus dem Karton,
setzte sich an den Tisch im Wohnzimmer und begann
zu lesen. Ein Gespräch, das Ketola mit der Mutter und
dem Vater der verschwundenen Pia Lehtinen geführt
hatte. Der Versuch,
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