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Das Schweigen

Das Schweigen

Titel: Das Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
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gestanden. Joentaa hatte sich abrupt aufgerichtet und gehustet in der Hoffnung, der Pfarrer würde
    denken, dass er die ganze Zeit nur gehustet und keines-
    falls mit sich selbst gesprochen hätte. Der Pfarrer hatte
    gelächelt, wissend und sanft, anmaßend, hatte Joentaa
    in diesem Moment gedacht, und er vergewisserte sich
    seitdem immer, dass niemand in der Nähe war, bevor er
    seine Gespräche begann. Gespräche mit Sanna. Oder
    vielleicht doch mit sich selbst oder mit der Sonne, dem
    Regen oder dem Schnee. Das spielte keine Rolle.
    Er berührte die Erde auf dem Grab und erzählte alles
    Mögliche, alles, was ihm gerade einfiel. Er sprach eine
    ganze Weile, das, was er sagte, wurde immer sinnloser
    und beliebiger, immer losgelöster und befreiender, und
    manchmal lachte er, weil er wusste, dass Sanna über
    das, was er gesagt hatte, auch gelacht hätte, und
    irgendwann vergaß er sogar, darüber nachzudenken, ob
    jemand in der Nähe war und ihn hören konnte.
    Er sprach, bis er die Erschöpfung und die Leere spürte.
    Dann ging er zu seinem Wagen und fuhr zurück aufs
    Festland.

    2

    Timo Korvensuo legte auf halber Strecke eine Pause
    ein. Er saß in der Raststätte und trank einen Kaffee.
    Zwischen dem Absetzen des Plastikbechers und dem
    nächsten Schluck entwickelte er eine Art Rhythmus, der
    ihn ein wenig beruhigte.
    Er war in der Nacht schließlich doch eingeschlafen,
    aber es war kein erholsamer Schlaf gewesen. Der Schlaf
    war durchdrungen gewesen von Träumen, an deren In-
    halt er sich nicht erinnern konnte.
    Nach dem ersten holte er sich einen zweiten Becher
    mit Kaffee, und dann begann er, darüber nachzudenken,
    was er als Nächstes tun sollte.
    Die ganze Fahrt über war der Gedanke dagewesen,
    umgehend wieder umzukehren. Einmal hatte er das
    sogar gemacht und war etwa zwanzig Kilometer zurück
    in Richtung seines Wochenendhauses gefahren. Er hatte
    überlegt, was er Marjatta und den Kindern sagen würde.
    Der Kunde aus Turku hatte angerufen und den Termin
    abgesagt. Ganz einfach. Verschoben. Auf unbestimmte
    Zeit. Vermutlich würden Marjatta und die Kinder gar
    nicht fragen, sondern sich einfach über seine schnelle
    Rückkehr freuen.
    Dann hatte er den Wagen gewendet und war wieder
    in Richtung Turku gefahren, er hatte das Gaspedal ganz
    durchgedrückt und ab und zu die Augen geschlossen
    und sich treiben lassen. Eine Weile hatte er jeden gefah-
    renen Kilometer laut mitgezählt.
    Jetzt saß er an einem Tisch für zwei Personen in einer
    Raststätte und betrachtete die vorbei rasenden Autos.
    Seine Gedanken kreisten um die Tatsache, dass er nach
    wie vor die Wahl hatte. Weiterfahren nach Turku. Zu-
    rück nach Hause.
    Oder er würde einfach auf diesem Stuhl sitzen bleiben
    und sich nicht bewegen. Auf unbestimmte Zeit. Er
    würde den Pappbecher in regelmäßigen Abständen zum
    Mund führen und den Autos beim Hin- und Herfahren
    zusehen.
    Korvensuo lächelte ein wenig bei dem Gedanken, und
    eine junge Frau, die in diesem Moment seinen Blick
    traf, kniff die Augen zusammen, schüttelte den Kopf
    und drehte ihm den Rücken zu.
    Wenig später setzte Korvensuo seine Fahrt fort. Die
    Sonne blendete, ein heißer Tag lag in der Luft.
    Er stellte sich vor, dass Laura und Aku kopfüber in
    klares Wasser sprangen, und fuhr in moderatem, gleich-
    mäßigem Tempo nach Turku.

    3

    Das Mädchen auf dem Foto lachte. Lauthals, dachte
    Joentaa, das war das Wort, das ihm beim Anblick des
    Mädchens eingefallen war. Pia Lehtinen.
    Joentaa stand vor dem Foto und spürte ein Kribbeln
    bei dem Gedanken, dass dieses Foto hier seit Jahrzehn-
    ten hing. So wie die Fotos von Sanna in Jahrzehnten da
    sein würden, wo sie jetzt waren.
    »Das ist Pia«, sagte Elina Lehtinen, die neben ihn ge-
    treten war. In ihren Händen ruhte ein Tablett mit Tassen,
    Tellern und einem noch dampfenden Blaubeerkuchen.
    »Ich weiß«, sagte Joentaa.
    »Natürlich ... Sie haben ein Foto in Ihren Unterla-
    gen«, sagte Elina Lehtinen.
    Joentaa nickte.
    »Es ist unglaublich lange her«, sagte sie, ohne den
    Blick von dem Foto zu nehmen. »Ich habe gestern darü-
    ber nachgedacht ... und war überrascht, als mir bewusst
    wurde, dass Pia heute eine sechsundvierzigjährige Frau
    wäre. Schwer vorstellbar ...«Sie sah ihn an und lächelte.
    Joentaa nickte. »Ich ...«, begann er.
    »Ja?«
    »Entschuldigung ... das ist sicher eine merkwürdige
    Frage, aber ... wissen Sie, worüber Pia so gelacht hat?«
    Elina Lehtinen sah wieder auf das Bild und dachte

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