Das Schweigen
noch einmal, noch minutiöser, alle
Umstände ihres Verschwindens in eine sinnvolle Rei-
henfolge zu bringen.
Der Vater brach im Lauf des Gesprächs zusammen.
Das stand nicht da, aber es war Ketolas dürren Worten
zu entnehmen. Die Antworten der Mutter wirkten mo-
noton und hoffnungslos. Das Gespräch hatte im Haus
des Ehepaares stattgefunden, etwa vier Monate nach Pia
Lehtinens Verschwinden. Ein Gespräch, das der Ermitt-
lung keinen neuen Impuls hatte geben können. Kimmo
setzte sich aufrecht. Er spürte das Leid der Eltern zwi-
schen den Zeilen.
Morgen würde er mit Elina Lehtinen, Pias Mutter,
sprechen. Er hatte sich für den Vormittag angekündigt.
Die Frau hatte am Telefon einen ruhigen, beherrschten,
fast abwesenden Eindruck gemacht und gesagt, dass sie
schon auf den Anruf gewartet habe. Die Telefonnum-
mer und die Adresse waren identisch gewesen mit den
Angaben in den alten Akten. Kimmo war im ersten Mo-
ment überrascht gewesen, dass die Frau offensichtlich
noch immer in demselben Haus wohnte, und hatte
einen Moment später an sich selbst gedacht. Auch er
wohnte noch in demselben Haus. Natürlich. Natürlich
war Elina Lehtinen dort geblieben.
Ihr Mann dagegen war gegangen, vermutlich, weil er
es nicht mehr ausgehalten hatte, an diesem Ort zu leben,
mit dieser Erinnerung, auch das hatte Kimmo Joentaa
verstanden, und auch das hatte er den Akten entnom-
men, die nach einiger Zeit eine neue Adresse des Man-
nes verzeichnet hatten.
Joentaa las noch einmal, ganz langsam, Wort für
Wort, das reglose Gespräch zwischen Ketola und Pia
Lehtinens Eltern.
Dann blätterte er um. Am oberen Rand der nächsten
Seite klebte ein mit Ketolas schwer leserlicher Hand-
schrift beschriebener Zettel. Es war eine Art Notiz. Es
ging um den Unterschied zwischen einer Vermissten-
und einer Mordermittlung und um eine bürokratische
Richtlinie, die Ketola auf Anweisung des Ermittlungslei-
ters prüfen sollte. Oder so ähnlich, Joentaa wurde nicht
schlau daraus. Ketolas Handschrift war noch unleserli-
cher als sonst. Als hätte seine Hand während des Schrei-
bens gezittert.
Der Zettel trug das Datum des Tages, an dem Pia
Lehtinen, die Überreste von Pia Lehtinen, in einem See
am Rand von Turku, nahe dem Ort ihres Verschwin-
dens, gefunden worden waren.
5
Elina Lehtinen stand im Garten ihres Hauses und sah
den Männern bei der Arbeit zu. Sie waren einige hun-
dert Meter entfernt, und eine schwache Dämmerung
hatte eingesetzt, die bis zum Morgen anhalten würde,
aber sie konnte die Männer über das Feld hinweg gut
erkennen.
Sie trugen weiße Overalls und weiße Kapuzen, die
ihre Gesichter verdeckten, sie arbeiteten sorgfältig und
beharrlich. Der zweite Arbeitstag der Männer näherte
sich dem Ende, sie hatten schon vor einer Weile wieder
Scheinwerfer eingeschaltet, die schwaches Licht spen-
deten, und das Ganze wirkte ein wenig wie ein Traum.
Elina Lehtinen fühlte sich wach wie lange nicht. Sie
war ganz ruhig gewesen, als sie am Tag zuvor die Sire-
nen gehört hatte, und sie war nicht überrascht gewesen,
als der Streifenwagen bei Pias Kreuz angehalten hatte.
Sie hatte aus dem Fenster geblickt und gesehen, wie
sich die beiden Polizisten über das Kreuz gebeugt hatten.
Wie sie miteinander gesprochen hatten. Sie hatten eine
Weile dort gestanden und waren vorsichtig um irgend
etwas herumgelaufen, sie hatte nicht sehen können, was
es war, weil die Bäume ihr die Sicht darauf verdeckt
hatten. Aber etwas hatten die Polizisten gefunden.
Einer der beiden war zum Wagen gegangen und hatte
telefoniert.
Elina Lehtinen hatte am Fenster gestanden und ge-
spürt, wie ein kleiner Klumpen Leere ganz weich in ihr
Hirn herabgesunken war, und dann hatte sie unmittel-
bar und klar wahrgenommen, dass etwas Wichtiges
passierte. Etwas, das sie erwartet hatte. Etwas, das ir-
gendwann hatte passieren müssen, weil sie darauf ge-
wartet hatte.
Was immer es war.
Sie war nach draußen gegangen und hatte, gemein-
sam mit anderen, in einiger Entfernung hinter einer Ab-
sperrung gestanden und den Männern bei der Arbeit
zugesehen.
Sie war stehen geblieben, bis der Abend begonnen
hatte, die Menschen neben ihr waren gekommen und
gegangen, manche hatten länger verweilt, manche
kürzer, manche hatte sie gekannt, manche nicht, und
irgendwann hatte ihr Nachbar Turre neben ihr gestan-
den.
Er und seine Frau Maria hatten schon damals im
Nachbarhaus gelebt, an dem Tag, an dem Pia
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