Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Schweigen

Das Schweigen

Titel: Das Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
Vom Netzwerk:
eine
    Weile nach. Das Bild war im Winter gemacht worden, im
    Hintergrund lag Schnee, ansonsten war nur Pias Gesicht
    zu sehen, aufgenommen aus unmittelbarer Nähe.
    »Nein ...«, sagte Elina Lehtinen schließlich. »Nein, lei-
    der ... ich glaube, das hat mein Mann gemacht... mein
    ehemaliger Mann ... im Ski-Urlaub ... vielleicht hat er sie überraschen wollen und sie hat gelacht, als sie es bemerkte, und in dem Moment hat er das Foto gemacht ...«
    »Ja«, sagte Joentaa.
    »Das hat übrigens in den ganzen Jahren noch nie
    jemand gefragt«, sagte sie.
    »Hm.« Joentaa hatte noch eine Frage auf der Zunge,
    aber er wusste nicht, wie er sie stellen sollte.
    »Die meisten gehen an dem Foto vorbei, als würden
    sie es übersehen«, sagte sie. »Sogar heute noch ... man-
    che wissen natürlich gar nicht, wer Pia ist, aber das sind wenige, Leute, die ich erst seit kurzem kenne ... ich
    binde das ja nicht jedem gleich auf die Nase ... aber
    irgendwie kommt es dann doch immer zur Sprache ...«
    Joentaa nickte und spürte noch einmal den Impuls,
    die Frage zu stellen, aber er ließ es sein. Er wendete sich ab und folgte Elina Lehtinen auf die Terrasse.
    »Selbst gebacken«, sagte sie, als sie ein Stück Kuchen
    auf seinen Teller lud.
    »Danke«, sagte Joentaa.
    Sie setzte sich und sah Joentaa fragend an.
    »Ja ...«, sagte Joentaa.
    Er schwieg eine Weile, und Elina Lehtinen sagte: »Sie
    sind ein komischer Polizist.« Für Momente sah sie ihrer
    Tochter sehr ähnlich.
    »Bin ich?« fragte Joentaa.
    »Sind Sie allerdings«, sagte Elina Lehtinen.
    »Ich ... möchte Sie etwas fragen ... etwas, das gar nicht
    wichtig ist. Meine Frau ... vor zwei Jahren ist meine
    Frau gestorben ... an Krebs ... und ich lebe noch in dem
    Haus, in dem wir gemeinsam gelebt haben, und ihre
    Fotos, Fotos von ihr sind auch dort, und meine Frage
    ist ... folgende ... ja ... ich weiß es gar nicht ... ich habe keine Ahnung, was ich eigentlich fragen wollte...«
    Er spürte Schweiß auf seiner Stirn und sah Elina Leh-
    tinen an, die seinen Blick ruhig erwiderte. Eine schmale
    Frau mit einem auffällig runden Gesicht und Lachfalten
    an den Stellen, an denen auch ihre Tochter sie gehabt
    hatte.
    »Entschuldigung ... ich weiß wirklich nicht... wahr-
    scheinlich wollte ich meinem Ruf gerecht werden ...«
    »Aha?«
    »Ein komischer Polizist zu sein«, sagte Kimmo
    Joentaa.
    Elina Lehtinen lachte kurz auf. Ein Lachen, das
    Joentaa nicht deuten konnte.
    »Ich ...«
    »Wie geht es den Eltern?« fragte Elina Lehtinen.
    »Den ...«
    »Den Eltern des verschwundenen Mädchens. Im Fern-
    sehen heißt sie nur Sinikka. Das war damals auch schon
    so. Sie hieß nur Pia. Aber es wurde viel weniger berichtet.
    Oder ich habe es einfach nicht verfolgt... ich weiß es gar nicht mehr ... ich erinnere mich gut an einen Kollegen
    von Ihnen, auch ein junger Polizist ... er war sehr ...
    engagiert. Übrigens noch ein komischer Polizist.«
    »Ich weiß, wen Sie meinen. Wir haben einige Jahre
    zusammen gearbeitet«, sagte Joentaa.
    »Nicht mehr?«
    »Nein, er ist pensioniert, seit Anfang des Jahres.«
    »Natürlich«, sagte sie. »Nur in meinem Kopf ist er
    noch ein junger Mann. Probieren Sie doch von dem
    Kuchen.«
    Joentaa führte die Gabel zum Mund.
    »Einmal hatte ich wirklich einen Lachkrampf«, sagte
    Elina Lehtinen und lachte auch jetzt, als sie Joentaas
    Gesicht sah. »Einen unglaublichen Lachkrampf, das ist
    meine intensivste Erinnerung. An dem Tag, an dem
    mein Mann mich verlassen hat. Er hat gesagt, dass er
    jetzt geht, und ich habe angefangen zu lachen und bis
    zum Abend nicht mehr aufgehört, und am nächsten
    Tag habe ich bei den Nachbarn geklingelt, und die
    haben mich in eine Klinik eingeliefert, und dann war
    ich recht lange in einer Kur. Schmeckt der Kuchen?«
    »Ja ... sehr gut«, sagte Joentaa.
    »Das ist meine intensivste Erinnerung«, sagte sie.
    »Alles andere ist fast nur noch ein ... Gefühl ... dass
    eben alles zu Ende ist... mal näher, mal weiter weg ...
    man redet mit Leuten ... das hat manchmal geholfen
    ... und jetzt ist es ewig her ... und alles beginnt von
    vorn ...«
    »Sie meinen, das verschwundene Mädchen, Sinik-
    ka ...«
    »Ja. Es wiederholt sich. Als ich die Polizisten gesehen
    habe, war ich nicht überrascht. Weil ich immer darauf
    gewartet hatte, dass es irgendwie weitergeht ... verstehen Sie?«
    Joentaa antwortete nicht. Er wusste nicht, ob er es
    verstand.
    »Ich wusste immer, dass es das nicht gewesen sein
    kann ... dass irgendwann alles

Weitere Kostenlose Bücher