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Das Schweigen

Das Schweigen

Titel: Das Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
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Flaschen zersprangen in Scherben. Ein dump-
    fes Klirren. Der Mann faltete die Tüte zusammen, in
    der die Flaschen gelegen hatten, und ging an ihm vorbei,
    ohne den Kopf zu heben. Korvensuo kannte ihn nicht.
    Natürlich nicht. Der Mann war ein kleines Kind gewe-
    sen, als Korvensuo hier gelebt hatte. Und Mathematik
    studiert hatte. Aus nicht zu benennenden Gründen.
    Alles war anders. Eine Ewigkeit war vergangen. Er wen-
    dete den Blick und sah den Spielplatz. Andere Spielge-
    räte. Bunt und neu. Ein Motor dröhnte. Pärssinen saß
    auf einem knallroten Gefährt und mähte den Rasen.
    Korvensuo sah ihm dabei zu. Es entspannte ihn.
    Gleichmäßig fuhr Pärssinen die Fläche ab. Sorgfältig
    und behutsam stutzte er auch das Gras an den Rändern.
    Er war älter geworden. Ein alter Mann, aber er hatte
    schon damals nicht mehr jung ausgesehen.
    Korvensuo dachte darüber nach, ob Pärssinen die
    Farbe gewählt hatte. Das Rot des Rasenmähers. Vermut-
    lich waren diese Modelle immer rot. Er fühlte wieder
    den Sand rieseln. Langsam und stetig. Pärssinen hob
    den Kopf und senkte ihn ohne ein Zeichen des Wieder-
    erkennens.
    Korvensuo lief. Meter für Meter. Er fror und spürte
    Sand in seinem Körper.
    »Hallo«, sagte er, als er nah genug war, und Pärssinen
    hob den Blick vom Rasen, sah ihn fragend an, zuckte
    mit den Schultern und deutete auf seine Ohren, um zu
    signalisieren, dass er ihn nicht verstehen könne. Der
    Motor dröhnte.
    »Hallo!« rief Korvensuo noch einmal.
    Pärssinen schaltete den Motor ab und sagte in die
    Stille: »Was denn, Mann?!«
    »Ich bin es ... wir kennen uns«, sagte Korvensuo.
    »Ach ja!?« sagte Pärssinen.
    Korvensuo nickte.
    Pärssinen starrte ihn an. »Ja, ja ...«, murmelte er.
    Korvensuo zitterte. Schüttelfrost. Gänsehaut über
    dem Rücken. Ein warmer Tag. »Timo ...«, sagte Pärssi-
    nen, und Korvensuo fühlte, dass er nickte.
    Pärssinen machte einige Handgriffe und stieg von sei-
    nem Gefährt. »Lange her«, sagte er, während er Korven-
    suos Hand umfasste. Eine verschwitzte Hand mit Schwie-
    len und Blasen, Korvensuo spürte sie auf seiner Haut.
    »Ja«, sagte Korvensuo.
    »Lass uns was trinken«, sagte Pärssinen und ging
    voran. Korvensuo folgte und dachte, dass er nach Hause
    fahren würde. Sofort. Zu Menschen, die sein Leben
    waren.
    »Mannomann«, sagte Pärssinen, er wirkte fast glück-
    lich, während er die Tür zu seiner Wohnung öffnete.
    Zugezogene Jalousien. Sonnenflecken auf dem Boden.
    »Ein Bier?« fragte Pärssinen.
    Korvensuo nickte.
    Losfahren. Ins Auto steigen und losfahren, dachte er.
    »Setz dich!« rief Pärssinen aus der Küche.
    Korvensuo setzte sich in einen der beiden weichen,
    zerschlissenen Sessel, in dem er schon dreiunddreißig
    Jahre zuvor gesessen hatte. Auch das Sofa war dasselbe.
    Wo die Leinwand gestanden hatte, stand ein großer
    Fernseher. Neues, teures Modell.
    »Nicht übel, was?« sagte Pärssinen, der seinem Blick
    gefolgt war. Korvensuo nickte.
    »Ganz neu«, sagte Pärssinen und reichte ihm eine der
    Flaschen. »Prost!«
    Korvensuo trank einen Schluck.
    »Auf unser Wiedersehen«, sagte Pärssinen.
    Korvensuo betrachtete den Boden. Das Rieseln hatte
    nachgelassen, die Kopfschmerzen waren zurückge-
    kehrt. Sonnenflecken. Unter dem Fernseher standen ein
    DVD-Player und ein Videorecorder, im Regal waren
    sorgfältig die Hüllen aufgereiht.
    »Wollen wir einen Film schauen?« fragte Pärssinen.
    Korvensuo sah die Flasche in seiner Hand und wun-
    derte sich für einen Moment, dass er sie anscheinend
    schon zur Hälfte geleert hatte. Dann begann er zu la-
    chen. Zumindest klang es wie ein Lachen. Es brach aus
    ihm heraus. Es dauerte nur einige Sekunden. Der Sand
    rieselte nicht mehr. Mit Ausnahme der Kopfschmerzen
    spürte er nichts.
    »Entschuldige«, sagte er.
    Pärssinen saß unverändert entspannt. »Du musst dich
    nicht entschuldigen«, sagte er. »Du willst also keinen
    Film schauen?«
    »Nein«, sagte Korvensuo. »Das stimmt, nein. Nein ...
    ich möchte dich ... etwas fragen ... ich möchte ...
    warum?«
    Pärssinen führte die Flasche zum Mund und schien
    darauf zu warten, dass er seine Frage präzisierte.
    »Warum hast du das gemacht?« fragte Korvensuo.
    »Warum habe ich was gemacht?« fragte Pärssinen.
    »Das Mädchen, das verschwunden ist, genau da, wo
    wir damals ...«
    »Ach, das meinst du«, sagte Pärssinen. Er schien zu
    lächeln.
    Korvensuo stand auf. Er fühlte kalt die Flasche in der
    Hand. Eisgekühltes Bier. Jetzt

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