Das Schweigen
hatte nicht sonderlich viel
darüber nachgedacht. Später, hatte er gedacht und
manchmal in Gesprächen über dieses Thema auch
gesagt.
Joentaa erinnerte sich an seine eigene Kindheit. Er
war bald nach der Schule aus Kitee weggezogen, hatte
sich von seiner Mutter gelöst und gleichzeitig immer
empfunden, wie wichtig ihm die Bindung zu ihr war.
Das Wissen um ihr Dasein. Das schien im Fall von Si-
nikka anders zu sein. Auf den ersten oberflächlichen
Blick. Warum hatte sich Sinikka so nachhaltig von
ihren Eltern lösen wollen? Joentaa starrte das Foto an,
als könnte das Mädchen darauf ihm eine Antwort
geben.
»Alles klar, Kimmo?« fragte Sundström.
»Ja, ja«, sagte Joentaa.
»Was sagt dir das Foto?« fragte Sundström.
»Tja ... was ist euer Eindruck?« Joentaa hielt das Foto
für alle sichtbar. Eine Weile sagte niemand etwas.
»In einem Wort«, sagte Joentaa.
Wieder herrschte Schweigen.
»Lieb ... ich meine... sie sieht nett aus«, sagte Heino-
nen schließlich.
Grönholm nickte. »Geheimnisvoll?« sagte er. »Irgend-
wie, als ob sie geheimnisvoll wirken möchte.«
»Das sehe ich gar nicht«, sagte Sundström. »Nein, zu-
rückhaltend ... irgendwie schüchtern, aber auch wieder
nicht ...« Er schnellte plötzlich nach vorn, griff nach
dem Bild und hielt es sich dicht vor die Nase. »Ich
finde, sie erweckt den Anschein ... als würde sie ... ach, was weiß ich ...«
»Traurig«, sagte Niemi.
Alle wendeten sich in seine Richtung.
»Das Mädchen ist traurig«, sagte Niemi mit seinem
ewigen Lächeln auf dem Gesicht.
6
Timo Korvensuo saß in einem Hotelzimmer auf einem
Stuhl und sah durch das Fenster die Stadt in der Abend-
sonne liegen. Das Fenster war geklappt, eine Brise
Wind strich über seine Schultern.
Gedämpft hörte er die Sirene eines Polizeiwagens.
Wenig später flackerte auf Höhe des Marktplatzes ein
Blaulicht. Er konnte nicht sehen, was passierte, aber es
passierte nahezu lautlos, ab und an Schläge, als würde
jemand gegen Mülltonnen treten. Vermutlich Betrun-
kene, die aus dem Koma der vergangenen Nacht er-
wachten und noch ein wenig randalierten, bevor sie
nach Hause gingen. Halb so wild.
Das Zimmer lag günstig, die Sonne fiel direkt auf
seinen Körper und wärmte. Entspannend. Das Zittern
hatte nachgelassen. Während der Fahrt hatte er begon-
nen zu zittern, er hatte kaum noch die Gangschaltung
bedienen können, aber es war besser geworden, seitdem
er hier im Zimmer saß und auf die Stadt herabblickte.
Es beruhigte.
Er hatte das Gefühl, eine gewisse Kontrolle zurück-
zugewinnen. Die Ahnung einer gewissen Ordnung. Ein
Reduzieren der Dinge. Auf dem Schreibtisch lagen ein
Blatt Papier sowie eine Mappe mit Angaben zum
Service des Hotels und die Preisliste für die Mini-Bar.
Und die DVD. In einer weißen, neutralen Hülle.
Nichts, dachte er. Gar nichts. Am Ende blieb nichts
übrig außer Erinnerungen, vagen Vorstellungen, die ge-
nauso gut Fantasien sein konnten. Oder Träume, die
man geträumt hatte und gleich darauf vergessen, um
später noch einmal ein diffuses Bild zu sehen, in einem
bestimmten, vollkommen beliebigen Moment.
Vielleicht hatte er gerade mit Marjatta telefoniert. Mit
fester Stimme. Alles Wissenswerte durchgegeben und
einen schönen Abend gewünscht. Vielleicht hatte Pia
Lehtinen im Feld gelegen. Vielleicht hatte die Stimme
des Mädchens Pärssinen gebeten, aufzuhören, eine
merkwürdig ruhig klingende Stimme, die nur von Zeit
zu Zeit durchdrang, weil Pärssinen dem Mädchen den
Mund zuhielt und die Stimme mit Stöhnen übertönte.
Er meinte, die Stimme im Ohr zu haben, er konnte sich
täuschen. Er ließ sich treiben.
An der Rezeption standen zwei junge Frauen in adret-
ten Uniformen, die ihn professionell anlächelten, als er
vorüberglitt. In der Tiefgarage stand sein Wagen. Das
Notebook lag im Kofferraum und wog leicht in seiner
Hand, als er im Aufzug neben einem alten Mann stand.
Die CD lag noch auf dem Tisch, als er ins Zimmer zu-
rückkehrte. Er legte die CD ins Laufwerk ein und hörte
das sanft surrende Geräusch funktionierender Technik.
Ein Fenster, das sich Öffnete. Ein Knopf, der sich
drücken ließ.
Eine kleine Schwarzhaarige zwischen zwei Män-
nern. Das Bild ein wenig unscharf und verwackelt. Kor-
vensuo ließ den Film laufen, während er Toilettenpapier
aus dem Badezimmer holte. Als er zurückkehrte, starrte
das Mädchen in die Kamera und einer der Männer kün-
digte an,
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