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Das Schweigen

Das Schweigen

Titel: Das Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
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gekommen, und Ruth
    war ausgewichen, als er ihr einen Kuss auf die Wange
    gegeben hatte.
    Dann hatte er gesagt, dass in der Firma Chaos herr-
    sche, das reine Chaos, aber es werde schon alles gut-
    gehen.
    Dann hatte er Ruth gegenüber gesessen und gespürt,
    dass es nichts weiter zu sagen gab.
    Ruth hatte einen Apfel geschält und gegessen.
    Irgendwann war sie zum Fernseher gegangen und
    hatte die Nachrichten eingeschaltet. Sie hatte dicht vor
    dem Gerät auf dem Boden gekniet, und er hatte am
    Tisch gesessen und gedacht, dass er Ruth umarmen
    wollte, aber er war nicht in der Lage gewesen, sich zu
    bewegen.
    Gemeinsam hatten sie gewartet.
    Nach einigen Minuten war Sinikkas Foto eingeblen-
    det worden. Die Nachricht war vom Anfang in die Mitte
    der Sendung gerückt. Vermutlich, weil es nichts Neues
    zu berichten gab.
    Ruth hatte den Fernseher ausgeschaltet und ihn an-
    gesehen mit einem Blick, den er nie zuvor gesehen hatte
    und dem er nicht hatte standhalten können. Sie hatte
    gesagt, dass sie sich hinlegen wolle, und er hatte genickt und war doch noch aufgestanden und hatte sie an sich
    gedrückt.
    »Ich möchte, dass wir das schaffen«, hatte er gesagt
    und ihre Augen gesucht, und Ruth hatte sich aus der
    Umarmung gelöst und war gegangen, ohne noch etwas
    zu sagen.
    Kalevi Vehkasalo hoffte, dass sie schlief.
    Das war die einzige Möglichkeit. Lange zu schlafen,
    so lange, bis alles vorbei war. Er wusste nicht, wie viel
    Zeit vergangen war, seitdem Ruth das Zimmer verlassen
    hatte. Vermutlich Stunden. Oder Minuten. Er hatte
    keine Ahnung. Er wusste nur, dass er schlafen wollte.
    Bis zu dem Moment, in dem es wieder möglich sein
    würde zu atmen. Auszuatmen und einzuatmen.
    Er schaltete noch einmal den Fernseher an und suchte
    die Meldung im Videotext. Er las den kurzen Text. Sein
    Blick blieb an dem Namen hängen. Sinikka. So hieß
    auch seine Tochter. Er hörte Wasser rauschen. Ruth
    war wach.
    Er stand eine Weile reglos, als könne er eine Stille
    erzeugen, die Ruth endlich zur Ruhe kommen ließ.
    Dann ging er die Treppe hinunter in Sinikkas Zim-
    mer. Er blieb eine Weile auf der Schwelle stehen und
    starrte ins Dunkel. Irgendwann schaltete er das Licht
    an. Zum ersten Mal fiel ihm auf, dass es ein schönes,
    warmes Licht war.
    Er hob den Blick zu der Lampe und sah, dass sie sorg-
    fältig mit Papier und Stoff in verschiedenen Farben be-
    deckt worden war. Sinikka hatte sich ihre eigene Lampe
    gebastelt und ihr eigenes Licht geschaffen, und es gefiel
    ihm, und er nahm sich vor, ihr das bei nächster Gelegen-
    heit zu sagen.
    »Ich möchte, dass wir uns trennen«, sagte Ruth in sei-
    nem Rücken. Er hatte sie nicht kommen hören. Er
    drehte sich zu ihr um und sah sie im Türrahmen stehen.
    »Ich dachte, du schläfst schon«, sagte er.
    »Sinikka war ja das Einzige, was uns noch verbunden
    hat«, sagte Ruth. »Oder siehst du das anders?«
    Er sah ihr bleiches Gesicht. Ihm war schwindlig. Er
    stand Ruth gegenüber und sah eine schöne Frau, und
    Ruth kam auf ihn zu und schlug auf ihn ein. Er wartete
    reglos. Ruth umarmte ihn und zog ihn hinunter auf Sinik-
    kas Matratze. Das Kissen war weich. Ruth lag auf ihm, er
    spürte ihre Tränen auf seinen Wangen, auf seiner Zunge.
    Nach einer Weile stand Ruth auf, ging zu der kleinen
    Stereo-Anlage und schaltete Musik ein.
    »Was Sinikka zuletzt gehört hat«, sagte sie.
    Er nickte. Er kannte das Lied nicht. Ein Lied ohne Ge-
    sang, getragen von zwei akustischen Gitarren. Es gefiel
    ihm, und es überraschte ihn, dass es Sinikka gefallen
    hatte.
    Ruth hatte die Augen geschlossen. Er ließ seinen Kopf
    auf ihre Schulter sinken, und erst jetzt fiel ihm ein, dass er Sinikka angeschrien hatte. Als er sie zuletzt gesehen
    hatte. Es war erst wenige Tage her. Sinikka hatte eisern
    geschwiegen und war in ihr Zimmer gegangen, als er
    sein Geschreibeendet hatte. In ihrem letzten Blick hatte
    Wut gelegen. Er konnte sich nicht erinnern, worum es
    eigentlich gegangen war.
    Er würde Ruth danach fragen, sobald sie die Augen
    wieder öffnete.
    11

    Timo Korvensuo fuhr. In Bewegung bleiben. Einige
    Male um die Stadt herum. Er konnte sich nicht entschei-
    den, ob er ins Hotel fahren sollte. Abendessen. Alte
    Filme ansehen. Oder zu Pärssinen. Eine letzte Frage
    stellen. Schaukeln. Sich überschlagen. Aufstehen und
    gemeinsam mit dem Jungen lachen. Sich die Seele aus
    dem Leib lachen. Sich verabschieden. Von dem Jungen
    und von Pärssinen.
    Schließlich fuhr er zurück nach Naantali, parkte

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