Das Schweigen
ursprünglich zum Volleyball-
training hatte fahren wollen, sagte, dass sie sich sehr gewundert habe, als Sinikka nicht kam. Sie sei immer da
gewesen. Und wenn sie ausnahmsweise zu einer Ver-
abredung nicht hätte kommen können, hätte sie ganz
sicher abgesagt. Magdalena hatte mehrfach versucht,
Sinikka am Tag ihres Verschwindens zu erreichen, aber
das Handy war ausgeschaltet gewesen.
Joentaa nickte. Sinikkas Handy hatten sie zu Hause in
ihrem Zimmer gefunden, Sinikka hatte es dort offen-
sichtlich vergessen, als sie zum Volleyball fuhr.
Drei nicht abgehörte Nachrichten von Magdalena
waren auf der Mailbox gewesen, und sieben von Ruth
Vehkasalo. Wo sie bleibe, hatte Ruth Vehkasalo gefragt.
Zunächst verärgert, zwischenzeitlich hatte sie geschrien,
und am Ende, am späten Abend, kurz bevor ihr Mann
Kalevi im Fernsehen das Fahrrad seiner Tochter erkannt
hatte, hatte sie Sinikka sehr leise darum gebeten, sich
doch bitte endlich zu melden, weil sie sich langsam Sor-
gen machten.
Kürzlich war Sinikka Vehkasalo zur Sprecherin der
Jahrgangsstufen sieben bis zehn gewählt worden. Sie
hatte sich gegen eine wesentlich ältere Gegenkandidatin
durchgesetzt und damit für Aufsehen gesorgt. Ihren
Eltern hatte sie von dieser Wahl nichts erzählt.
Ein Lehrer bezeichnete Sinikka als schillernde Per-
sönlichkeit, eine Lehrerin sagte, sie sei unauffällig und
schweigsam gewesen. Joentaa strich sich die Sätze an,
obwohl es Randnotizen waren, eher zufällig geäußerte
Einschätzungen.
Eigentlich ging es um etwas anderes. Um die Frage,
wo sich Sinikkas Leiche befand. Und ihr Mörder. Und
um die Feststellung, dass sie drei Tage nach Sinikkas
Verschwinden noch nicht die geringste Ahnung hatten,
was passiert war. Die Suche nach Sinikkas Leiche bean-
spruchte inzwischen mehr als hundert Polizisten und
Freiwillige und zwei Dutzend Taucher.
Joentaa sah auf die Uhr. Drei Minuten nach Mitter-
nacht. Er hatte Sannas Eltern nicht angerufen. Er hatte
Anita, seine Mutter, nicht angerufen. Morgen.
Es klingelte an der Tür. Joentaa wusste, wer es war. Er
ging, um zu öffnen, und dachte an einen anderen Mann,
der vor seiner Tür gestanden hatte, in einer anderen
Nacht, im Winter vor zwei Jahren. Er öffnete.
»Grüß dich«, sagte Ketola. »Ich dachte mir, dass du
noch wach bist.«
»Ja«, sagte Joentaa.
Ketola trat ein und sagte: »Ich habe übrigens Ge-
burtstag.«
»Oh.«
»Seit wenigen Minuten.«
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Joentaa.
»Danke«, sagte Ketola und ging ein wenig schwan-
kend ins Wohnzimmer.
»Setz dich doch«, sagte Kimmo.
»Danke.« Ketola sah auf den Papierstapel hinab und
fragte: »Champagner steht kalt?«
»Hm?« sagte Joentaa.
»Sollte ein Scherz sein.«
»Nein, nein, ich habe tatsächlich welchen im Keller«,
sagte Joentaa. »Der steht da schon eine Weile, aber ...
kein Champagner natürlich ... Sekt ...«
Ketola starrte ihn an, und Kimmo ging in den Keller,
um den uralten Sekt zu holen. Gekauft von Sanna, aus
Gründen, die sich erledigt hatten. Er öffnete die Flasche
in der Küche. Der Korken traf Ketola, der im falschen
Moment im Türrahmen stand.
»Äh«, sagte Ketola.
»Entschuldigung.«
»Niemals scherzen mit Kimmo Joentaa ... Faustregel
... hatte ich kurz vergessen«, sagte Ketola und rieb sich
die Stirn.
Joentaa goss den Sekt in zwei Gläser, die er gemein-
sam mit Sanna gekauft hatte.
»Prost«, sagte Kimmo und reichte Ketola ein Glas.
»Danke«, sagte Ketola.
»Alles klar?«
»Hm?«
Joentaa deutete auf Ketolas Stirn.
»Halb so wild«, sagte Ketola. Er stand unschlüssig vor
dem Sofa. »Ja ... Prost«, sagte er und stieß sein Glas an
Joentaas.
»Und nochmal Glückwunsch«, murmelte Joentaa.
Der Sekt war lauwarm, hatte einen irritierenden
Nachgeschmack und prickelte wie Brause.
»Lecker«, sagte Ketola, leerte das Glas und ließ sich
auf das Sofa sinken.
»Wie gefallen dir die Gläser?«
»Gut, gut«, sagte Ketola.
»Die hat Sanna unbedingt haben wollen ... für mich
sieht das alles gleich aus ... ehrlich gesagt ...«
»Nein, nein, die sind wirklich schön«, sagte Ketola.
»Du liest, wie ich sehe?« Er deutete auf den Papierstapel.
Joentaa nickte.
»Gibt es was Neues?«
»Nicht viel«, sagte Joentaa. »Möglicherweise einen
weiteren Fall mit einem roten Kleinwagen. Im Mai 1983.
Vielleicht bringt es uns weiter, aber es hat natürlich nicht unmittelbar mit Sinikka Vehkasalo zu tun.«
»Ein getötetes Mädchen?
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