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Das Schweigen

Das Schweigen

Titel: Das Schweigen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Costin Wagner
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1983?«
    »Bis heute vermisst«, sagte Joentaa.
    Ketola nickte.
    Joentaa schenkte nach.
    »Eigentlich nicht mehr als ein Strohhalm«, sagte
    Joentaa. »Aber viel mehr haben wir nicht.«
    Ketola nickte. Sein Blick fiel auf den Karton, der
    neben dem Tisch stand. Die alten Akten, die Joentaa
    vorübergehend beiseite geräumt hatte. Ketolas Akten.
    Ketola nahm einen der vergilbten Ordner heraus und
    blätterte darin. Nach einer Weile lächelte er, während er
    las. Dann schloss er den Ordner und legte ihn be-
    hutsam auf den Tisch. Er schwieg lange, dann sagte er:
    »Dennoch interessant ...«
    »Was meinst du?« fragte Joentaa.
    »Dass dieser Karton hier steht. Dass diese Akten hier
    liegen. Bei dir. Wer hätte gedacht, dass dieser Karton
    nochmal Päivis Kellerraum verlassen würde. Wie hat
    der Junge den genannt?«
    »Hm?«
    »Der Junge, der uns in den Keller geführt hat. An
    meinem letzten Tag.«
    »Ach so, Antti ...«
    »Genau.«
    »Rumpelkammer?«
    »Genau. Wer hätte gedacht, dass dieser Karton noch-
    mal aus der Rumpelkammer in dein Wohnzimmer ge-
    langen würde?«
    »Ja ...«, sagte Joentaa.
    »Wenigstens für ein paar Tage«, sagte Ketola, und
    Joentaa fragte sich für einen Moment, was er damit
    meinte, und Ketola sagte: »Netter Typ übrigens.«
    »Hm?«
    »Netter Typ. Dieser Antti aus dem Archiv. Ist der
    noch bei euch?«
    »Ja, ja. Er ist inzwischen fest angestellt. Päivi und er
    sind dauernd am Lachen, wenn ich mal dort bin, die
    verstehen sich prächtig«, sagte Joentaa.
    Ketola nickte. »Und du?« fragte er nach eine Weile.
    »Ich?«
    »Wie geht es dir?« sagte Ketola.
    »Mir?«
    Ketola sah ihn eine Weile an, ganz ruhig fixierte er
    seine Augen. Joentaa erwiderte den Blick und dachte,
    dass sie sich noch nie auf diese Weise in die Augen gese-
    hen hatten, und dann wendete er sich ab und nahm
    einen Schluck und schenkte gleich nach.
    Ketola lächelte, als er wieder aufsah.
    »Du bist lustig, Kimmo«, sagte er. »Ich mag dich
    wirklich gern.«
    »Lustig?«
    »Mir fällt kein besseres Wort ein«, sagte Ketola.
    »Danke für den Sekt.« Er stellte das Glas ab und stand
    auf.
    »Bleib doch«, sagte Joentaa.
    Ketola blieb vor den Fotos stehen.
    »Sanna?« fragte er und deutete auf das Foto, auf dem
    Sanna ihrer Mutter einen Keks aus der Hand schlug.
    »Ja«, sagte Joentaa.
    Ketola betrachtete das Foto. Minuten lang stand er
    davor. Dann nickte er entschieden, als habe er etwas
    begriffen, und ging.

12. JUNI

    I

    Der Morgen war kühl. Timo Korvensuo spürte ein kur-
    zes, scharfes Stechen im Rücken, als er erwachte. Sein
    linker Arm hing im Lenkrad, und es gelang ihm für ei-
    nige Sekunden nicht, ihn zu bewegen, es fühlte sich an,
    als sei der Arm nicht mehr Teil seines Körpers.
    Er wartete eine Weile und sah durch die Scheibe auf
    den Parkplatz, während der Schmerz in den Arm und
    von dort aus in seinen Körper kroch.
    Dann richtete er sich auf und dachte an einen ande-
    ren Morgen vor vielen Jahren, an dem er mit Freunden
    in einem Wald vor einem Feuer gesessen hatte. Eine
    ganze Nacht lang. Irgendwann hatten einige geschlafen,
    andere hatten schweigend auf die flackernden Flammen
    gestarrt, und er war aufgestanden, hatte einen Abschied
    gemurmelt und war losgegangen.
    Er hatte sich durch Büsche und Bäume gewühlt, bis
    er endlich auf den Waldweg gestoßen war, und dann
    hatte er die falsche Richtung eingeschlagen und sein
    Fahrrad nicht mehr gefunden. An seinem Arm war eine
    Wunde gewesen, die gebrannt hatte, und bei jedem
    Atemzug hatte er Rauch in der Lunge gespürt.
    Er war Stunden lang durch den Wald gelaufen, und
    alles hatte vollkommen gleich ausgesehen, Bäume,
    Wege, Abzweigungen.
    Als er sein Fahrrad schließlich entdeckt hatte, war es
    schon merklich wärmer gewesen, und die Sonne hatte
    geschienen. Die Fahrräder der anderen waren nicht
    mehr da gewesen.
    Während er nach Hause gefahren war, hatte er sich
    die ganze Zeit darüber geärgert, dass er früher gegangen
    war als die anderen, nur um dann später als sie nach
    Hause zu kommen. Die anderen hatten sich sicher darü-
    ber gewundert, dass sein Fahrrad noch da gestanden
    hatte. Oder auch nicht. Vermutlich hatten sie es kaum
    registriert. Er hatte später mit niemandem mehr darü-
    ber gesprochen. Sie waren alle sehr erschöpft gewesen
    von dieser Nacht.
    Es war in den Ferien gewesen. Die ganze Nacht lang
    hatten sie geredet. Fleisch gegessen, Bier und Schnaps
    getrunken und geredet. Geredet und geredet, und er
    konnte sich an kein

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