Das Schweigen
1983?«
»Bis heute vermisst«, sagte Joentaa.
Ketola nickte.
Joentaa schenkte nach.
»Eigentlich nicht mehr als ein Strohhalm«, sagte
Joentaa. »Aber viel mehr haben wir nicht.«
Ketola nickte. Sein Blick fiel auf den Karton, der
neben dem Tisch stand. Die alten Akten, die Joentaa
vorübergehend beiseite geräumt hatte. Ketolas Akten.
Ketola nahm einen der vergilbten Ordner heraus und
blätterte darin. Nach einer Weile lächelte er, während er
las. Dann schloss er den Ordner und legte ihn be-
hutsam auf den Tisch. Er schwieg lange, dann sagte er:
»Dennoch interessant ...«
»Was meinst du?« fragte Joentaa.
»Dass dieser Karton hier steht. Dass diese Akten hier
liegen. Bei dir. Wer hätte gedacht, dass dieser Karton
nochmal Päivis Kellerraum verlassen würde. Wie hat
der Junge den genannt?«
»Hm?«
»Der Junge, der uns in den Keller geführt hat. An
meinem letzten Tag.«
»Ach so, Antti ...«
»Genau.«
»Rumpelkammer?«
»Genau. Wer hätte gedacht, dass dieser Karton noch-
mal aus der Rumpelkammer in dein Wohnzimmer ge-
langen würde?«
»Ja ...«, sagte Joentaa.
»Wenigstens für ein paar Tage«, sagte Ketola, und
Joentaa fragte sich für einen Moment, was er damit
meinte, und Ketola sagte: »Netter Typ übrigens.«
»Hm?«
»Netter Typ. Dieser Antti aus dem Archiv. Ist der
noch bei euch?«
»Ja, ja. Er ist inzwischen fest angestellt. Päivi und er
sind dauernd am Lachen, wenn ich mal dort bin, die
verstehen sich prächtig«, sagte Joentaa.
Ketola nickte. »Und du?« fragte er nach eine Weile.
»Ich?«
»Wie geht es dir?« sagte Ketola.
»Mir?«
Ketola sah ihn eine Weile an, ganz ruhig fixierte er
seine Augen. Joentaa erwiderte den Blick und dachte,
dass sie sich noch nie auf diese Weise in die Augen gese-
hen hatten, und dann wendete er sich ab und nahm
einen Schluck und schenkte gleich nach.
Ketola lächelte, als er wieder aufsah.
»Du bist lustig, Kimmo«, sagte er. »Ich mag dich
wirklich gern.«
»Lustig?«
»Mir fällt kein besseres Wort ein«, sagte Ketola.
»Danke für den Sekt.« Er stellte das Glas ab und stand
auf.
»Bleib doch«, sagte Joentaa.
Ketola blieb vor den Fotos stehen.
»Sanna?« fragte er und deutete auf das Foto, auf dem
Sanna ihrer Mutter einen Keks aus der Hand schlug.
»Ja«, sagte Joentaa.
Ketola betrachtete das Foto. Minuten lang stand er
davor. Dann nickte er entschieden, als habe er etwas
begriffen, und ging.
12. JUNI
I
Der Morgen war kühl. Timo Korvensuo spürte ein kur-
zes, scharfes Stechen im Rücken, als er erwachte. Sein
linker Arm hing im Lenkrad, und es gelang ihm für ei-
nige Sekunden nicht, ihn zu bewegen, es fühlte sich an,
als sei der Arm nicht mehr Teil seines Körpers.
Er wartete eine Weile und sah durch die Scheibe auf
den Parkplatz, während der Schmerz in den Arm und
von dort aus in seinen Körper kroch.
Dann richtete er sich auf und dachte an einen ande-
ren Morgen vor vielen Jahren, an dem er mit Freunden
in einem Wald vor einem Feuer gesessen hatte. Eine
ganze Nacht lang. Irgendwann hatten einige geschlafen,
andere hatten schweigend auf die flackernden Flammen
gestarrt, und er war aufgestanden, hatte einen Abschied
gemurmelt und war losgegangen.
Er hatte sich durch Büsche und Bäume gewühlt, bis
er endlich auf den Waldweg gestoßen war, und dann
hatte er die falsche Richtung eingeschlagen und sein
Fahrrad nicht mehr gefunden. An seinem Arm war eine
Wunde gewesen, die gebrannt hatte, und bei jedem
Atemzug hatte er Rauch in der Lunge gespürt.
Er war Stunden lang durch den Wald gelaufen, und
alles hatte vollkommen gleich ausgesehen, Bäume,
Wege, Abzweigungen.
Als er sein Fahrrad schließlich entdeckt hatte, war es
schon merklich wärmer gewesen, und die Sonne hatte
geschienen. Die Fahrräder der anderen waren nicht
mehr da gewesen.
Während er nach Hause gefahren war, hatte er sich
die ganze Zeit darüber geärgert, dass er früher gegangen
war als die anderen, nur um dann später als sie nach
Hause zu kommen. Die anderen hatten sich sicher darü-
ber gewundert, dass sein Fahrrad noch da gestanden
hatte. Oder auch nicht. Vermutlich hatten sie es kaum
registriert. Er hatte später mit niemandem mehr darü-
ber gesprochen. Sie waren alle sehr erschöpft gewesen
von dieser Nacht.
Es war in den Ferien gewesen. Die ganze Nacht lang
hatten sie geredet. Fleisch gegessen, Bier und Schnaps
getrunken und geredet. Geredet und geredet, und er
konnte sich an kein
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