Das Schweigen
war der Text, den er suchte ... Tuomas Heinonen
hatte ihn geschrieben, und er war kein Protokoll, son-
dern die Zusammenfassung mehrerer Gespräche, die
Heinonen geführt hatte und die mehr oder weniger
wichtige, möglicherweise noch zu klärende Fragen auf-
geworfen hatten ... eine Freundin berichtete von einem
Geburtstagsfest... Joentaa las die Aussage einmal und
noch einmal und noch einmal und je länger er las, desto
weniger begriff er, was daran so wichtig sein sollte ... er hatte sich geirrt... es war etwas anderes ... es ging gar
nicht um den Text.
Er blätterte um und sah eine Notiz in Heinonens
glasklarer Schrift, ganz anders als das Gekrakel von Ke-
tola ... klar und deutlich, ein Wort und eine Zahl.
Joentaa riss die Seite heraus und las das Wort und die
Zahl und hatte keine Ahnung, was es bedeuten sollte.
Er verharrte Minuten lang reglos.
Dann stand er auf und verließ das Haus.
Er verstand es nicht, verstand gar nichts mehr, aber er
spürte eine unbestimmte Angst.
Und eine ganz bestimmte Hoffnung.
17
»Komm doch rein, Kimmo«, sagte Ketola.
Er schien über Kimmos Besuch nicht überrascht zu
sein, obwohl es bald drei Uhr in der Nacht war. Die
Häuser hatten wie tot zu beiden Seiten gestanden, als
Kimmo durch die Stadt gefahren war.
Er folgte Ketola ins Wohnzimmer. Die Terrassentür
war geöffnet.
»Ich sitze draußen. Es ist ein warmer Abend«, sagte
Ketola und suchte seinen Blick, als wolle er sich
Joentaas Zustimmung versichern.
Joentaa nickte.
Sie saßen auf der Schwelle zwischen Nacht und Mor-
gen in Gartenstühlen und schwiegen.
Ketola hatte eine Hand auf das Modell gelegt, das in-
zwischen wieder auf seinen Rädern ruhte. Das Feld, die
Straße, die Allee, das Fahrrad, das rote Auto.
Auf dem Tisch stand ein mit Himbeeren und Kiwis
garnierter Schokoladenkuchen.
»Magst du ein Stück?« fragte Ketola.
»Nein, danke«, sagte Joentaa und beugte sich nach
kurzem Zögern über den Tisch, weil ihn die
Anordnung der Himbeeren irritierte.
»A und K«, sagte Ketola. »Antsi Ketola. Der Name
des Geburtstagskindes.«
»Ach so«, sagte Joentaa.
»Hat mein Sohn gebacken«, sagte Ketola.
Sie schwiegen wieder, und Joentaa wartete auf den
Impuls, auszusprechen, was er noch nicht zu Ende ge-
dacht hatte.
Ketola schien sich in der Stille wohlzufühlen.
Kimmo sagte: »Sinikka Vehkasalo.«
Ketola hob den Blick. »Sinikka Vehkasalo«, erwiderte
er.
»Sie hat eine Geburtstagsfeier besucht. Vor einigen
Monaten. Eine Freundin hat etwas darüber gesagt, und
Heinonen, du kennst ihn ja, hat in seiner gründlichen
Art den Ort notiert, an dem dieses Fest stattgefunden
hat, die Adresse, obwohl es nicht weiter wichtig zu sein
schien.«
»Ja, ja, Heinonen ...«, sagte Ketola.
»Oravankatu 20. Das ist das Haus gleich nebenan.
Das sind deine Nachbarn.«
»Ach ...«, sagte Ketola.
Sie schwiegen lange.
»Sinikka ist während der Feier plötzlich weggewesen«,
sagte Joentaa schließlich. »Nach einer Weile ist sie
zurückgekehrt und wirkte verändert. Als sei etwas Be-
deutsames passiert. Sie hat aber selbst ihren Freundin-
nen nicht verraten, was es gewesen ist. Sie hat es be-
wahrt wie ein wichtiges Geheimnis.«
»Tja ...«, sagte Ketola.
»Sie ist hier gewesen. Bei dir. Warum? Was ist an
diesem Tag passiert?« fragte Joentaa.
»Nichts«, sagte Ketola.
»Nichts?«
Ketola nickte.
»Ist sie hier gewesen?« fragte Joentaa.
»Ja. Natürlich.«
Natürlich, dachte Joentaa. Natürlich.
»Warum?« fragte er.
»Frag mich was Leichteres«, sagte Ketola.
»Warum?« wiederholte Joentaa.
»Ich weiß es nicht.«
Joentaa wartete.
»Ich saß auf der Terrasse. Wie jetzt. Die Mädchen
sind im Garten rumgerannt und sogar ins Schwimmbad
gesprungen, obwohl es saukalt war. Und dann hat es an-
gefangen zu regnen. Alle sind ins Haus gegangen, bis auf
Sinikka. Sinikka ist über den Zaun gesprungen und zu
mir auf die Terrasse gekommen.«
»Warum?« fragte Joentaa.
»Warum ... ich weiß es wirklich nicht... sie wusste,
dass ich bei der Polizei gearbeitet habe, das hat ihr wohl die Tochter der Nachbarn mal erzählt ... vermutlich war
sie irgendwie neugierig. Und sie fragte, warum ich trau-
rig sei.«
»Was?«
»Komisch, nicht? Habe ich auch gedacht. Ein Mäd-
chen im Alter von Pia Lehtinen ... steigt über den Zaun
und stellt mir sinnlose Fragen ...«
»Und dann?«
»Was dann?«
»Was ist danach passiert?«
»Ich habe in meinem Stuhl gesessen, etwa wie
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