Das Schweigen
jetzt,
und sie vermutlich angestarrt wie einen Geist. Und sie
hat angefangen zu lachen.«
Joentaa dachte an das Foto. Die ernsten Gesichtszüge,
hinter denen er ein lautes, prustendes Lachen zu sehen
geglaubt hatte.
»Ja ...«, sagte Ketola. »Sie ... sagte, dass sie mich be-
obachtet hätte und dass sie sich die ganze Zeit gefragt
habe, was mit mir los sei, und dann habe ich
angefangen, ihr alles zu erzählen.«
»Alles zu erzählen?« fragte Joentaa.
»Alles, von dem Moment an, in dem ich an Pia Lehti-
nen gedacht habe. An meinem letzten Arbeitstag, du
erinnerst dich. Alles, was mir seitdem durch den Kopf
gegangen war. Alles über Pia. Alles, woran ich mich er-
innern konnte. Alles, worüber ich nachgedacht habe in
den Monaten danach ... nach meinem Abschied ... ich
hatte ja viel Zeit, mir den Kopf zu zerbrechen ... es
dürfte wohl der längste Monolog meines Lebens gewe-
sen sein.«
Ketola schwieg.
»Und?« fragte Joentaa.
»Sie saß da und hörte zu. Sie war ... erstaunlich ruhig.
Ich habe geredet und geredet und hatte irgendwann das
Gefühl, dass noch nie etwas, das ich gesagt habe, derart
... derart direkt ... es ist schwer zu beschreiben ... ich hatte das Gefühl, dass sie das alles tatsächlich in sich
aufnimmt, dass sie das ganze Zeug versteht ... ohne
mich ein einziges Mal zu unterbrechen, ohne eine
einzige Nachfrage ... und dann, am Ende ...«
Joentaa wartete.
»Am Ende hat sie auf das Modell gedeutet und wie
selbstverständlich gesagt, dass sie die Stelle kennt. Die
Stelle, an der das Kreuz steht, dort würde sie immer
vorbeikommen, wenn sie zum Volleyballtraining fahrt.
Und dann ... haben wir beide lange gar nichts mehr ge-
sagt. Mir ist auch absolut nichts mehr eingefallen. Und
dann hat sie plötzlich gesagt, dass ich den Mann finden
muss, der Pia Lehtinen getötet hat ...«
Ketola verstummte.
»Und dann?« fragte Joentaa
»... und dann dachte ich, dass es kindisch ist und dass mir ein altklug daher schwätzendes Mädchen gegenübersitzt. Oder dass ich träume oder verrückt ge-
worden bin oder beides zu gleichen Teilen ... mein Gott
... was weiß ich ...«
Ketola richtete sich auf, hielt kurz inne und schnitt
sich dann ein Stück von dem Kuchen ab, als habe er
schon lange daraufgewartet, das endlich tun zu können.
»Auch eins?« fragte er.
Joentaa reagierte nicht, und Ketola ließ sich nicht er-
weichen. »Schmeckt richtig gut, komm schon«, sagte er
und schnitt ein weiteres Stück ab.
Joentaa nahm den Teller, den Ketola ihm reichte. Er
biss in den saftigen Schokoladenüberzug und dachte,
dass es ihm ähnlich ging wie Ketola damals. Bald würde
Sundström vor der Tür stehen und ihn wecken.
»Es hat stark geregnet«, sagte Ketola und wischte
sich den Mund. Er wirkte jetzt entspannt, als sei das
Schlimmste überstanden. »Ich höre immer den Regen
... auf der Markise ... wenn ich daran zurückdenke. Ich
habe gesagt, dass es zu spät ist, dass es viele Jahre
zurück liegt, irgend etwas in der Art, und sie ... Sinikka
... hat gesagt, dass es dann eben wieder passieren muss.«
»Wieder passieren muss?«
»Ja. Es müsse an derselben Stelle auf genau dieselbe
Weise wieder passieren. Der Täter von damals würde
dann zurückkehren, weil es ihm keine Ruhe lassen
werde ...«
»Und daraufbist du eingegangen?«
»Natürlich nicht. Ich hielt es für die albernste Idee,
die ich seit langem gehört hatte.«
»Aber...«
»Sie sagte, dass sie es machen würde. Sie sagte, dass
sie so oft an dem Kreuz abgestiegen sei und überlegt
hätte, wer Pia sei, und jetzt wisse sie es und werde etwas unternehmen. Sie wollte das Mädchen sein, das ver-schwindet. Ihre Eltern gingen ihr sowieso auf den Sack,
entschuldige, aber so hat sie es ausgedrückt, und mit den
Leuten in der Schule konnte sie auch nichts anfangen,
und deshalb hätte sie ohnehin Lust, für eine Weile zu
verschwinden, so lange wie nötig. Gut, was?«
»Wie bitte?«
»Der Kuchen«, sagte Ketola.
»Ah.«
»Ja ... ich dachte natürlich, dass sie sich nur wichtig
machen will. Ich dachte vermutlich gar nichts. Das Mäd-
chen ist gegangen. Sie hat noch gesagt, dass ich mich
ein wenig gedulden müsse, weil sie schon noch in die
nächste Klasse versetzt werden wolle und die Sache
deshalb bis zu den Ferien warten müsse, und dann ist
sie gegangen.«
»Weiter«, drängte Kimmo, als Ketola sich wieder zu-
rücklehnte.
»Ich bin noch ziemlich lange auf der Terrasse sitzen
geblieben. Am
Weitere Kostenlose Bücher