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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Schrott
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den Flühen, der Fels diese Grundierung durchbrechend, weiß hervorstechend der Kirchturm, dessen Glocken mich jeden Morgen wecken. Mein Zimmernachbar hat im Garten gerade Besuch bekommen, er sitzt mit seiner Frau auf der Bank, sie schaukelt den Kinderwagen, und plötzlich habe ich den Anfang jenes Kinderliedes im Ohr, das mir seit Jahren nicht aus dem Kopf geht, die Worte so leer wie der Blick hinaus, unbeteiligt an allem, dass es keinen Unterschied macht, was ich aufs Papier setze.
    Es war nicht das erste Mal, dass zwischen deiner Mutter und mir eine Gewalt Raum griff, die eine andere Bedeutung hatte als die auf das Bett beschränkte, wo sie ein bloßes Hilfsmittel blieb, um die Abwehr des Körpers zu überwinden, ein Utensil gewissermaßen wie die Vibratoren und Plastikphalli, um mehr als nur sich selber zu spüren: ein Nadelstich, der die Selbstheilungskräfte anregt, wie deine Mutter mir einmal erklärte. Doch die Wunde, die diese Aggression bei mir hinterließ, entzündete sich durch die Eifersucht deiner Mutter zu einem Eiterherd.
    Dabei war der Anlass egal; sie las heimlich meine alten Briefe und hatte auch das Passwort zu meinem E-Mail-Konto herausgefunden. Dass ich ihr nie untreu werden würde, wusste sie; aber solange die bloße Möglichkeit bestand, musste sie zwanghaft jeden Verdacht für sich ausräumen – indem sie ihn an mir auslebte. Sie traf mich damit ins Mark und verstand es, meinen Stolz zu beugen. Das griff auch auf meine Arbeit über. Dass mir eine andere Modell stand, genügte bereits, ganz zu schweigen von einem Abendessen mit Freunden, die ihre Frauen mitbrachten, ohne dass ich sie deiner Mutter zufolge mehr als nur hätte begrüßen dürfen. Ihre Furcht, sich zu verlieren, nahm in dem Moment überhand, wo meine Aufmerksamkeit sich nicht mehr uneingeschränkt auf deine Mutter richtete.
    So nachvollziehbar es einerseits und lächerlich es andererseits sein mag: es wurde zum Auslöser all unseren Unglücks. Unsere Beweggründe sind meist banal – werden wir darauf reduziert, reagieren wir im Übermaß. Du einmal auf der Welt, in ihrer Welt, hielt mich deine Mutter fern von dir, entzog dich mir, zog sich zurück mit dir in eine Symbiose, in der ich den Kern ihres Wesen erkannte: nun warst es eben du, die deiner Mutter jene ungeteilte Hingabe zukommen lassen musste, die für sie lebensnotwendig war, und dies ohne den Harm und Gram, den jede Liebe zwischen Mann und Frau naturgemäß nach sich zieht. Jetzt, mit dir, brauchte sie mich nicht mehr; ich wurde zur Gefahr, da sie aus ihrer Schwäche heraus fürchtete, dich an mich zu verlieren. Und so band sie dich an sich, keinem vernünftigen Wort mehr zugänglich, eine Madonna mit ihrem Kind, die nunmehr ihrer inneren Stimme folgte, unantastbar in ihrer Gloriole, die Magd des Herrn, seit du ihr verkündet worden warst.

SECHZEHN
    Ich vermag nur Linien zu ziehen; die Punkte finden, wo sie sich schneiden zu einem Anfang und einem Ende, musst du.
    Das Chloral, dessen Einnahme jeden Abend überwacht wird, hinterlässt denselben laugenden Geschmack wie der Zorn, mit dem ich mir damals die Wangen zerbiss. Es versetzt mich in einen traumlosen Tiefschlaf, dass ich beim Aufwachen noch lange betäubt bleibe, was mir an den Tagen, an denen ich nicht schreibe, recht ist – alles, was das Einsetzen der ewig um das Eine kreisenden Gedanken verzögert, was mich ablenkt, selbst das Essen im Speisesaal, dem Refektorium dieses ehemaligen Klosters, wo man, ich weiß nicht, warum, nur das Besteck, nicht aber die Teller in einem Steintrog voll schmutzigen Wassers abzuwaschen hat. Die Bekanntschaften, die man hier schließt, zerstreuen mich, jene mit meinem Zimmernachbarn etwa, einem alten Lehrer, der nicht mehr die Kraft zu unterrichten aufbringt; ein ›Chronischer‹, wie er hier genannt wird. Anders als ich, darf er hinaus; er bringt mir von seinen Ausgängen die Zeitung mit: er ist mir Freund geworden, dem ich, seiner Diskretion sicher, vieles von dem anvertrauen kann, was ich sonst nur zu Papier bringe.
    Meine eigentlichen Freunde haben sich dagegen von mir abgewandt. Wer dies nicht schon dank deiner Mutter getan hatte, die keinem von ihnen Sympathie entgegenbrachte, weil sie auch in ihnen Konkurrenten sah, drehte mir spätestens im Laufe der Ermittlungen den Rücken zu – außer Louis. Er hatte mit mir die Akademie begonnen, in der Klasse, in der ich deiner Mutter begegnet war, und besuchte mich nun auch hier: er bereitet mir damit jedesmal ein Fest, und das,

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