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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Schrott
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obwohl ihn bereits da seine Ängste quälten. Ich wusste ja nicht, dass er da schon das erste Mal versucht hatte, sich umzubringen; er selbst stellte es mir gegenüber als reinen Unfall dar, nachts, eine breite Ausfallstraße und ein Lastwagen, der ihn streifte…
    Bis auch er ankündigte, dass dies nun das letzte Mal sein würde. Steifer als sonst, verlangte er, ihn nicht zu unterbrechen. Er erzählte mir von sich und deiner Mutter, ohne dass ich dabei vorgekommen wäre, als traue er sich nicht, etwas näher an- oder gar auszusprechen, um diesen Monolog mit den Worten zu beschließen: Ich bin eigentlich gekommen, um dir das Warum zu erklären; aber ich kann es einfach nicht. Ich fragte ihn nicht, was er damit meinte; in dem Moment, in dem wir uns einem Fatum ausgeliefert sehen, haben Gründe keine Bedeutung mehr. Ihm hinterherrufen, ihm schon unserer alten Freundschaft wegen nachgehen, hätte ich sollen; dass ich es nicht tat, war meine Art der Vergeltung. Sein Suizid war da wohl schon geplant, obwohl nicht einmal die Frau, mit der er zu der Zeit zusammenlebte, ahnte, dass er bald darauf ins Wasser gehen würde, die Pulsadern offen, die Manteltaschen mit Steinen beschwert.
    Auch dass Kim mir keine Visiten mehr abstattet, verschafft mir seltsamerweise Erleichterung. Ich muss ihr nicht mehr in die Augen sehen und kann allein sein. Ihr gegenüber brächte ich nicht mehr die Kraft auf, meine Zerrissenheit zu verbergen.
    Ich bin das Gefühl nie losgeworden, dass Kim meiner offenkundigen Schwächen wegen insgeheim auf mich herabsah; dass sie mir keine Vorhaltungen machte, verschlimmerte alles noch. So entstand zwischen uns eine Distanz, die ich trotz der Zeit, die wir zusammen verbrachten, selten richtig einzuschätzen vermochte. Ich brauchte lange, um zu verstehen, dass sie mir bei einem Spaziergang nur ungern die Hand gab, auch im Schlaf nicht berührt werden wollte, sie dies als unangenehm, wenn nicht gar als Nötigung empfand: für sie war Liebe etwas, das ihr Raum gewährte und Luft verschaffte, Seite an Seite, mit einer Selbstverständlichkeit, die das Körperliche gerade deshalb als Lust verspürte, weil es der Wärme nicht wirklich bedurfte. Ich dagegen konnte damit nur schlecht umgehen. Dass man Kim in der Öffentlichkeit ihrer dunklen Haut, glänzend schwarzen Haaren und schmalen Augen wegen des Öfteren als gekaufte Frau einschätzte, als Katalogbraut, die sich durch eine Heirat mit mir eine Aufenthaltsgenehmigung verschaffte, erfüllte mich deshalb wohl, das muss ich gestehen, mit einer gewissen Befriedigung: so erwuchs mir zumindest in den Augen anderer Macht über sie.
    Ich selbst starrte Kim an, ohne mir bewusst zu sein, was ich eigentlich sah. Dass alles verfließt, in Worte ausufert, sich verlierenden Gedanken, würde ich allzu gern der Medikation zuschreiben, auf die man mich gesetzt hat: doch sie lähmt nur, was sonst an der Oberfläche ineinander übergeht und verschwimmt. Da ist eine Grenze, die ich nicht hätte überschreiten dürfen, niemals.
    Alles, was ich bis dahin getan habe, vor dieser Grenze zurückschreckend und dennoch angezogen davon, war noch auf die eine oder andere Weise zu rechtfertigen gewesen; wenn ich schon nicht das Recht auf meiner Seite hatte, dann wenigstens das Mitgefühl derer, die mich kannten. Doch da ich unfähig, nein: unwillig war, mich meiner Situation zu stellen und mich damit abzufinden, geriet ich in einen Maelstrom, der mich anfangs nur unmerklich erfasste, um mich dann desto tiefer zu ziehen, hinab zu einer dunklen Mitte, die mich nicht mehr loslässt, jeden Morgen verzweifelt nach Halt greifend, obwohl es längst keinen Ausweg mehr gibt, nur Ausflüchte.
    Denn wenn ich etwas entscheiden hätte müssen, dann an jenem Tag, als die Sonne erst halb am Himmel stand, die Trauben violett unter den Blättern, Milan hinten bei seinem Kind, wir mit dem Verleger am Tisch, der Abdruck unserer Lippen und Finger an den Gläsern milchig im Licht: aufstehen hätte ich sollen und mit Kim gehen, statt mich dem Lauf der Dinge zu überlassen.

SIEBZEHN
    Das Bild, das ich ohne nachzudenken von Kim im Kopf trage, ist das eines Gesichts von ebenmäßigen Proportionen, doch blank wie ein Blatt Watermann: ihre Brauen, die Nase, der Mund ein geschwungenes Schriftzeichen darauf, die Tusche mit kleinen Pinseldrehungen auf dieses Papier gesetzt, ein Ideogramm, das ich nicht auszudeuten vermochte.
    Nunmehr auf der anderen Seite stehend, sehe ich mich erst selbst. Ich weiß noch gut, wie es mir

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