Das schweigende Kind
dass in ihrer von Palast, Park und Kirche gebildeten Mitte nun die Rezeptionshalle, der Swimmingpool und der Kuppelbau einer Bar liegen. Ihre Begeisterung für Le Corbusier rührt sicherlich daher, dass man seine so zwanghaft ordentliche Architektur mit Vorliebe in Asien übernahm: denken Sie bloß an das Projekt Shanghai. Aber Kims Augen blieben so ausdruckslos, wie nur sie das zustandebrachte.
Kennen Sie Deutschland? Kim hob leicht die Brauen. Karlsruhe mit seinen von der Mitte aus verlaufenden Achsenstraßen, die die Stadt in Kreissektoren teilen? Mannheim mit seinen quadratischen Wohnblöcken, die für den Grundriss von Washington Modell standen? Glückstadt im Norden? Oder das wie ein Mühlebrett um die Schanzfestung angelegte Freudenstadt, das Dürers Idee einer Idealstadt verwirklichen sollte? Freude und Glück wurden auf den Reißbrettern Ihrer Kollegen Häuserzeilen entlang auf Reihe gebracht, die Menschen aber gleich Steinchen aus dem Spiel genommen. Sie fragen sich vielleicht, weshalb ich darüber so gut Bescheid weiß? Nun – ich habe eben das entsprechende Buch herausgebracht.
Er griff in den Stapel schäbiger Publikationen auf dem Tisch, jene Reihe von Bänden mit dem rauhgrauen Papier und den abgesoffenen Drucken, die ich nur höflich durchgeblättert hatte, maßlos enttäuscht, dass meine Arbeiten in solch einem Format erscheinen würden. Da: Die Geträumten Städte . Darin findet sich alles von Atlantis bis hinauf zu Canberra, Brasilia und La Défense. Er hielt es Kim vor die Nase, eine Doppelseite mit Fingern und Daumen aufgespreizt. Hier etwa ist der Plan der Burg von Veliki Tabor, die Karl II. zur Zeit der Türkenkriege erbauen ließ, in Erwartung, dass ihm dort der Herr erscheine wie Jesus bei der Verklärung am Berge Tabor, überstrahlt von Licht, derweil ihn eine Stimme aus den Wolken zum Sohn Gottes erklärt.
Und da sehen Sie Karlovac, eine der wenigen noch vollständig erhaltenen idealen Städte. Karl erbaute sich diese Festungsstadt als sechszackigen Stern; am Zusammenfluss von vier Strömen sollte sich aus dem sumpfigen Gelände ein Neues Jerusalem erheben und ein erobertes Paradies überblicken lassen. Wenn Sie wollen, können wir morgen gerne einen Ausflug in diese Stadt der Gärten machen; vielleicht sogar führt Dušan uns durch seine Heimatstadt…
Das Grau des Ackers drüben hatte sich inzwischen ins Rot gewendet, Furchen im Laterit, der metallisch in der Sonne glänzte. Und da war immer noch die eine Stadt irgendwo hinter dem Horizont, wo Mädchen zur Hochzeit geführt wurden, das Volk in den Torwegen den Umzug bestaunend…
Karlovac haben Sie, sagte der Verleger wieder zu mir gewandt, letztlich Ihren Auftrag zu verdanken. Denn es wird überliefert, dass Karls Architekt, Martin Stier, dem Erzherzog versprochen hatte, ihm auch den Himmel über seiner Sonnenstadt neu zu entwerfen, die alten heidnischen Sternbilder zu tilgen und sie durch katholische zu ersetzen. Das geschah zwar nie, zumindest soweit wir wissen. Doch nachdem Dušan zum Präsidenten gewählt worden war, setzte er es sich in den Kopf, diese Tradition aufzugreifen, um mit einem endlich kartierten ›Karlstädter Himmel‹ seinem Geburtsort und seinem Land wieder zu Glanz zu verhelfen. Für die Tourismusindustrie ist das zwar ein etwas magerer Einfall: wer bitte fährt schon nach Karlovac, um sich dort ausgerechnet einen von Dušan konzipierten Sternenatlas anzusehen? Aber ich bin mir gar nicht mehr so sicher, dass es überhaupt darum geht.
Dušan ist, blickte er mich prüfend an, wie alle Künstler umso geltungssüchtiger, je weniger es mit seiner Kunst auf sich hat. Als Komponist hat er es zu nichts gebracht; sonst wäre er nicht in die Politik eingestiegen – um so die Aufmerksamkeit zu erhalten, die er nötig hat. Das ist ihm auch anzusehen: die leinenweiße Anzüge, die er trägt; das Gehabe als großer Reformator, mit der er sich in dieses Taborlicht hüllt. Seine Kleider so strahlend weiß, wie sie auf Erden kein Bleicher machen kann, heißt es im Markusevangelium. Das messianische Auftreten ist wohl der Ersatz für die schöpferische Kraft, die seiner Musik fehlt – wie ich nach zwei anstandshalber besuchten Aufführungen mit dem Nationalorchester sagen muss.
Ein Gang durchs Café Charly passt besser zu ihm; da kann er die Hände schütteln, während ihm die Crème de la Crème das in Italien maßgefertigte Schuhwerk küsst, um einen Auftrag von ihm zu erhalten. Was Ihnen – das wieder einmal zu mir
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