Das schweigende Kind
erging, als Kim mich portraitieren wollte: was mich augenblicklich kopfscheu machte, war die Aussicht, selber gezeichnet zu werden.
Bei meiner Arbeit fühlte ich mich stets in mein Modell übergehen, sein Doppelgänger werdend – ich verlor mich, Leib und Seele, in der Konzentration darauf, um hernach umso befreiter atmen zu können. Selbst jedoch für ein Portrait sitzen zu müssen verunsicherte mich. War dieses Lächeln, das sich starr über mein Gesicht zog, noch natürlich? Verhielt ich mich wie jemand, der unbedingt gefallen wollte? Am liebsten hätte ich die Augen geschlossen, um wenigstens einen Teil von mir nicht preiszugeben, wenn Kim mich nicht, kurz und knapp jedesmal, aufgefordert hätte, diesen oder jenen Ausdruck anzunehmen, ihr unbeirrbar sanfter Blick auf mir: ich fühlte mich wie ein Schmierenkomödiant auf der Suche nach einer Rolle.
Kim hatte die Staffelei in der Ecke unseres Wohnzimmers aufgestellt und stand mit dem Rücken zum Fenster, von dem ich auf die Plakette sah, die das Haus gegenüber als einstigen Sitz von Lavoisiers Laboratorium auswies. Die Sitzungen dauerten, doch dabei redeten wir, wie wir es lange nicht mehr getan hatten, über unser Leben, so als hätten wir beide keine Vergangenheit, über langsam zu präparierenden Reis und wie sie am liebsten mit mir schlief, über meine augenblicklich sichtbare Erektion erfreut, lachend über unsere Bekannten und die Wahlverwandtschaften, die sie eingingen, die gleichsam chemischen An- und Abstoßungskräfte von Paaren, ohne über die Zukunft zu reden, weil sie so selbstverständlich schien, und ich mich zurückhalten musste, keine gutgemeinten Ratschläge zu erteilen für ihr Bild, das sie danach jedesmal mit einem Tuch bedeckte, damit ich es erst am Ende sähe.
Während ich mich irgendwie beschämt fühlte, stellte ich an ihr eine ungewohnte Unsicherheit fest, eine von Sitzung zu Sitzung gesteigerte Nervosität. Sie hätte meine Ähnlichkeit getroffen, meinte sie, bräuchte aber noch Zeit, um ihr mehr Intensität zu verleihen, bis sie das Bild schließlich mit in ihr Büro nahm, wo sie abends daran weitermalte, aus dem Gedächtnis. Die nächste Zeit vermieden wir jede Erwähnung davon. Sie sagte, es müsse sich noch mehr entfalten; sie habe es inzwischen leicht verzerrt, um das darin Verhohlene besser zum Vorschein zu bringen; um alles abzuschließen, benötige sie nur noch eine einzige Sitzung – zu der es jedoch nie kam.
Als ich aber, ich weiß nicht mehr, aus welchem Anlass, in ihrem Studio erschien, die Stiege hoch in den ersten Stock, erblickte ich es, hinter ihr an der Wand über dem Sims hängend, längst vollendet. Ich war mehr als konsterniert: es war ein Schock. Nie zuvor hatte ich ein so melancholisches Portrait gesehen. Ich wandte mehrmals meinen Blick davon ab, starrte Kim an, wie sie da auf ihrem Drehsessel hockte, den Bleistift in ihrem Haarknoten, die Arbeitsplatte mit dem Winkellineal vor sich, darauf der Grundriss irgendeines Bauwerks, um dann wieder auf diese Kopie meiner selbst zu starren. Und bei jedem Mal erschien es mir noch trister als das Nachbild, das mir gerade noch vor Augen stand, so pathetisch wie lächerlich, bis ich schließlich die Fassung verlor und wortlos zur Tür hinausging.
Jetzt hängt das Bild über meinem Bett, ein Akt mit schlaffen Muskeln, halb zweifelnd und halb aufbegehrend, die Spachtel in der einen Hand, der Daumen der anderen durch die Palette gehakt, einem zweiten Phallus gleich. Die Irritation, die es auslöst, ist ungebrochen. Dass das Portrait technisch weit entfernt davon ist, perfekt zu sein, bleibt unerheblich; gerade seine Makel verstärken den Effekt.
Wenn ich mich entscheide, es dir einmal zu überlassen, dann damit all die Vorstellungen, die du dir von mir gemacht haben wirst, die Erinnerungen, die dir noch geblieben sein mögen, durch dieses Portrait aufgehoben werden. Sollst du mich wirklich so sehen, durch die Augen eines anderen, wo ein Bild doch weit endgültiger ist als alles, was ich formulieren könnte? Und die Wahrheit nur dem zumutbar, der sie auch zu verantworten hat?
ACHTZEHN
Geschichten täuschen darüber hinweg, dass sich ihre Zwangsläufigkeit erst im Nachhinein ergibt; in Bildern hingegen stehen die Figuren nebeneinander, getrennt und dennoch gleichzeitig.
Es war irgendwann nach Mittag, dass Milan und ich wieder zurück zum Gutshaus zurückkehrten. Kim schien sich gerade angeregt mit dem Verleger zu unterhalten; dieser leichte Stich Eifersucht schmälerte
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