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Das schweigende Kind

Das schweigende Kind

Titel: Das schweigende Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Schrott
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gewandt – einen schönen Raum für Ihre Arbeiten verschaffen wird. Dušan lässt gerade die Festung von Karlovac renovieren. Dort sollen die Bilder der berühmtesten kroatischen Malerin, Slava Raskaj, ausgestellt werden, aber eben auch Ihre Serie von Sternbildern. Doch darüber wird zu reden sein, sobald der Herr Präsident uns die Ehre gibt…
    Der Name der Malerin riss mich aus der Betäubung, die der warm gewordene Wein bei mir bewirkte. Meine Mutter hatte bei ihrer Flucht aus der Branau eines von Raskajs Stilleben auf dem Leib getragen, eines ihrer wenigen Besitztümer. Die Knickstellen, wo sie das Aquarell gefalzt hatte, gingen trotz allem Bügeln nie mehr heraus, genauso wenig ihre Schweißflecken, die sich braun neben den Blättern der Seerosen ausbreiteten – gerade der damit verbundenen Geschichte wegen hatte mich dieses Bild als Junge so beeindruckt, dass es lange meine Vorstellung von Kunst prägte. Und dass diese Künstlerin eine dunkle Biographie aufwies, vergrößerte noch die Faszination: taubstumm geboren, dennoch als Schauspielerin auftretend, brachte sie das Ende ihres kurzen Lebens in einem Asyl zu, Gewaltausbrüchen ausgeliefert, manisch depressiv. Aber ich hielt den Mund; ich wollte dem Verleger nicht auch noch einen Anknüpfungspunkt an meine Geschichte bieten.
    …haben Sie Lust, durch den Garten zu spazieren, fragte er, ohne Anstalten zu machen, aufzustehen. Die gestutzten Hecken und getrimmten Büsche, die abgezirkelten Blumenbeete rund um das mit Steinen ausgelegte Labyrinth, sie sollen dem Hof weniger einen klassizistischen Anstrich geben, das wäre ja auch lächerlich, dazu ist es trotz Sprenganlage zu trocken, das Gras schon im Frühsommer gelb. Nein – Cabet ist das.
    Das sagt Ihnen nichts? Etienne Cabets Reise Nach Ikaria …? Er zog ein giftrotes Bändchen aus dem Stapel und warf es mir in den Schoß: ein philosophischer Roman, den ich in Dušans Auftrag einer Wochenendausgabe unserer Tageszeitung beigelegt habe. Das war unter Tito Schulstoff. Sie können sich sicherlich denken, um welche Art von Utopie es sich dabei handelt: die Vision einer vollkommenen Stadt. Und wie alle Visionen stellt auch sie bloß eine konzentrische Fläche voll kalter platonischer Körper dar, jedwedem politischen und sozialen Chaos enthoben. Bloß dass bei Cabet hinzukommt, dass seine sechzig Stadtviertel Namen und Charakter der Weltstädte hätten widerspiegeln sollen, antiker wie moderner: Athen und Rom, Jerusalem und Konstantinopel, Peking und New York. Eine Miniatur des Kosmos und zugleich des menschlichen Universums hätte es werden sollen – und wäre doch nur das potemkinsche Dorf eines Pedanten geworden.
    Ob Cabets ideale kommunistische Stadt, Speers Neues Berlin, Versailles, Washington, irgendeine Mormonensiedlung, chinesische Stadtplanungen oder eine europäische Trabantenstadt mit ihren Plattenbauten – sie drücken allesamt dasselbe Prinzip aus. Geometrische Bauten als Abbild eines auf die Erde projizierten Sonnensystems und seines Regelwerks. Dass die durch rigorose Symmetrie zum Vorschein gebrachten physikalischen Gesetze unerbittlich sind, so gar nicht menschlich, macht offenbar die Faszination dieser immer wieder hervorgeholten Idee aus. Ich als Methusalem kann meine abgrundtiefe Abneigung für solch sterile Vorstellungen mit meiner Lebenserfahrung untermauern. Was den Menschen reizt, ist die Abweichung, das Überbordende und Schmutzige, sinnleer Vergeudetes – wie ja auch in der Kunst, nicht wahr? Denn was den Menschen von der Gleichgültigkeit des Universums abhebt, ist sein Hang zur Perversion: ob Nächstenliebe oder Aggressivität – sie alle weichen von jedem natürlichen Maß ab. Kein Tier ist so gewalttätig und so heillos in etwas vernarrt wie der Mensch.
    Er griff nach Kims Hand. Worauf wollte ich hinaus?, fügte er ungeniert hinzu. Ah – richtig, Cabet. Was Dušan an diesem unlesbaren Schmöker so gefällt, ist die politische Promiskuität. Mit seiner Vision dieses Landes will er hier ebenfalls das Globale regional verwirklichen: amerikanische Banken, chinesische Investoren, indische Universitätsdozenten, russisches Gas, was weiß ich, was hier den Aufschwung bringen soll. Eine ideale Stadt als Industriezone. Visionär ist dabei bloß, wie ideologiefrei Dušan dabei argumentiert: nämlich gänzlich ökonomisch.
    Die einzige politische Programmatik, die den Realitätstest all der Ismen überlebt hat, ist die Pragmatik des Geldes. Zu der wir uns doch im Grund alle bekennen.

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