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Das Schwein kommt zum Essen: Roman (German Edition)

Das Schwein kommt zum Essen: Roman (German Edition)

Titel: Das Schwein kommt zum Essen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joseph Caldwell
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Straßenstaub. Das braune Haar fiel offen über Schultern und Kapuze. Auf den ersten Blick machte sie einen sehr einfachen und schlichten Eindruck, aber als Kieran etwasgenauer hinsah, fand er sie ausgesprochen hübsch. Zarte blasse Haut, blaue Augen, volle Lippen, die Oberlippe etwas kräftiger als die untere. Hals und Nacken waren von dem derben Stoff ihres Kleides wundgescheuert.
    Sie schaute Kieran an, irgendwie erwartungsvoll, wie er meinte, falls er die leicht geöffneten Lippen und die sich etwas weitenden Augen richtig deutete. Er glaubte, sie schon einmal gesehen zu haben. Hatte sie zu den Hochzeitsgästen gehört? Bekleidet war sie damals genau wie jetzt gewesen. Gewiss würde sie ihm gleich sagen, was sie herführte. Aber sie sagte nichts. Die schlanke Erscheinung starrte ihn nur unentwegt und mit gleichbleibendem Gesichtsausdruck an, in aufrechter Körperhaltung, den Kopf leicht zur Seite geneigt, den rechten Fuß vor den linken gesetzt.
    Er wartete noch einen Moment, dann sprach er sie an. »Du suchst sicher meine Frau.« Das Mädchen strich sich eine Strähne aus dem Gesicht und schob sie hinter das linke Ohr, fiel aber sofort wieder in ihre fast würdevoll anmutende Haltung zurück, behielt auch den erwartungsvollen Blick bei. »Oder kann auch ich etwas für dich tun?«
    Er betrachtete sie genauer. Die Schattierung um den Nacken hatte er für einen grob gewebten Kragen gehalten, aber beim näheren Hinsehen stellte er fest, es war kein grobes Tuch, es war rohes Fleisch. Augenscheinlich hatte ihr ein derbes Gewebe die Haut bis aufs Blut aufgescheuert. Oder hatte sie da eine Verbrennung erlitten? Vielleicht konnte das Mädchen deswegen nicht sprechen. Kieran würde sie fragen. Aber noch ehe er sich zu der rechten Wortwahl entschließen konnte, setzte das Mädchen seinen rechten Fuß auf gleiche Höhe zum linken zurück, verharrte kurz in dieser Stellung und verschwand. Sie löste sich nicht auf, sie verblasste nicht, sie war einfach nicht mehr da, wo sie eben noch gewesen war.
    Hatte er kurz geblinzelt? Hatte er zu einem Schatten in der Halle hinten gesprochen? Hatte sie ihn verlassen, als er vielleicht unbewusst woanders hingeschaut hatte? Er ging hinaus auf den Hof. Niemand. Nichts. Er lugte zurück in die Halle. Niemand. Er ging noch einmal in die Halle. Die meisten Kühe hatten sich – mit von der Wand abgewendetem Kopf – zur Ruhe gelegt. Das Schwein hatte seine Position verändert, so dass jetzt sein Bauch ein weiches Ruhekissen für das Maul der Kuh abgab.
    Kieran tastete mit den Augen die Wände ab, alle Ecken. Er schritt prüfend die Kuhreihen ab. Er drehte sich unerwartet um, versuchte jemand zu ertappen, der ihm vielleicht folgte. Nur ein paar Schatten. Er blieb am Ende der Halle stehen, das Gesicht den Kühen zugewandt, schaute von einer Seite zur anderen. Mit befehlsgewohnter Stimme warnte er: »Ich halte nichts von blöden Streichen. Versuch es also nicht ein zweites Mal. Verstanden?«
    Bevor jemand hätte eine Antwort geben können, war er schon wieder draußen auf dem Hof. Er war finster entschlossen, sich nicht umzudrehen, und wollte zur Spülküche, wo er mit sich allein sein würde. Auf dem Weg dahin gesellte sich zu der Liste der Möglichkeiten für den wundgeriebenen Hals des Mädchens ein weiterer Gedanke. Ein dickes Seil aus rauer Faser hätte die Haut aufgescheuert haben können. Die nächste Mutmaßung ergab sich zwangsläufig: Das Mädchen war vielleicht gehängt worden.
    Jetzt wusste er, wer die Erscheinung gewesen war. Ihr Name hatte ihn seit seiner Kindheit begleitet. Ihr Name war Brid.
    Doch es konnte gar nicht Brid gewesen sein. Brid war tot – tot seit über zwei Jahrhunderten. Das Mädchen eben aber lebte.

Kapitel 4
     
    Kitty saß am Computer in ihrem Arbeitszimmer neben dem ersten Absatz der Wendeltreppe, die auf den mit Zinnen versehenen Turm führt. Sie hatte sich in ihrer Arbeit festgefahren, ihre Einbildungskraft ließ sie im Stich, sie konnte ihr nichts Neues entlocken, so sehr sie sich auch mühte. Vergebens waren die Anstrengungen, die Hirnschale zu erweitern, damit sie einem Gehirn Platz bot, das alles aufnahm, was Kitty wissen musste, was sie sehen und hören musste. Frustriert, wie sie war, entschloss sie sich, auf den Turm zu steigen und ihre Nöte dem frischen Wind zu offenbaren.
    Als sie die Windung emporkletterte, die sie zum nächsthöheren Treppenabsatz brachte, blieb sie stehen. Sie wusste, sie würde den Webstuhl erblicken, ohne aufgezogene Fäden,

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