Das Schwein kommt zum Essen: Roman (German Edition)
verwirrten Geister? Wenn dem so war, konnte das ganze Land, konnte die ganze Welt verflucht sein, so sittsam waren sie, so anmutig ihre Gegenwart. Gewiss waren sie eher ein Segen als eine Plage. Aber was hatten sie mit Kitty zu tun, und was hatte Kitty mit ihnen zu tun? Dass sie auserwählt war, wusste sie bereits. Aber warum? Sie verfügte über keine übersinnlichen Kräfte. Sie war sich keineswegs sicher, ob sie glaubte, was ihre Augen gesehen hatten. Und doch,
gesehen
hatte sie etwas.
In der Ferne toste die wilde See. Immer wieder warfen sich schaumgekrönte Wogen gegen die Küste. Kitty war der ganze Aufruhr gleichgültig. Sie hatte schon Sorgen genug, konnte sich nicht auch noch um die Verschrobenheiten der Meerestiefen kümmern. Und sie begriff, sie würde einfach hinnehmen müssen, was sie nicht verstehen konnte. Etwas Mysteriöses war schließlich von Natur aus nicht dazu geschaffen, erklärt zu werden.
Gewiss, als Schriftstellerin verfügte sie über eine innere Triebkraft, und die drängte sie, nach Erklärungen zu suchen, ein Motiv bloßzulegen, das Chaos der menschlichen Existenz zu bändigen. Sie war eine geschickte Manipulatorin, hatte sich ganz ihrer Berufung hingegeben, die Bewegungender unsichtbaren Hand des Schicksals aufzuzeichnen, ihre Leser zu versichern, dass vorherbestimmte Ereignisse eintraten und dabei Wahrheiten enthüllten, die sonst unerkannt geblieben wären. Von ihr erwartete man geradezu, das Mysteriöse aufzulösen. In eigener Person sich mit Mysteriösem abzufinden, stand ihrer Berufung entgegen. Zuzugeben, dass ihre diesbezügliche Begabung ihre Grenzen hatte, hieß, eine Niederlage eingestehen.
Aber ihr blieb keine andere Wahl. Sich zu weigern, mit der Wirklichkeit dieser Unwirklichen zu leben, hätte von ihr etwas gefordert, das zu geben sie nicht bereit war: nämlich die Burg zu verlassen. Den Fluch hinter sich zu lassen. Diese verstörten Jugendlichen aus ihrem Denken zu verbannen und ihr Geschick zu vergessen, ein Geschick, das sich, abgesehen davon, dass sie gehängt wurden, erst noch erfüllen müsste. Wie konnte sie so etwas tun? Wie konnte sie die im Stich lassen, die alle Welt im Stich gelassen hatte?
Kitty stand an der Brüstung und sah zu, wie die Wellen gegen die Klippen brandeten. Sie tat nicht recht daran, sich von der Gegenwart des Mysteriösen bedroht zu fühlen. Sie war lediglich auf die andere Seite der üblichen Begrenzungen menschlichen Seins gedrängt worden. Entweder besaß sie bereits eine besondere Gabe, oder sie war ihr gerade zuteilgeworden. Ihr war eine Ehre erwiesen worden, und sie zurückzuweisen oder sich dagegen aufzulehnen, indem sie entweder verrückt wurde oder die Burg aufgab, vertrug sich nicht mit ihrer Natur. Sie würde zu dem Treppenabsatz unten hinabsteigen, zum Webstuhl und der Harfe, sie würde, wenn möglich, mit Brid und Taddy reden, würde ihnen sagen, dass sie die Einladung in ihr Mysterium annähme. Sie würde ihnen weder keine Beachtung schenken noch ihre Gegenwart leugnen. Sie würde keinen Versuch unternehmen, sie mit Beschwörungen aus ihremHeim zu vertreiben oder ihnen zu verbieten, sich an ihrem Herd wohlzufühlen, soweit ihnen das vergönnt war. Sollten sie irgendwelche besonderen Wünsche oder Forderungen haben, wollte sie alles tun, was sie konnte, um sie zu erfüllen.
Sie stieg die steinernen Stufen hinab, überließ die See ihrem sinnlosen Toben. An der Windung vor dem Treppenabsatz blieb sie stehen. Brid, die an ihrem Webstuhl tätig war, hielt auch inne, ebenso Taddy mit seiner Harfe. Niemand bewegte sich. Nachdem ein kurzer Moment verstrichen war, fuhr Brid in ihrer Beschäftigung fort, und Taddy nahm sein stummes Saitenzupfen wieder auf, als wäre da nur eine Generalpause auf dem Notenblatt verzeichnet gewesen, von dem er spielte.
Anstatt ihren Weg zu den Stufen auf der anderen Seite des Raums fortzusetzen, wartete Kitty und beobachtete die beiden. Brid war vollends gefangen im Rhythmus der Arbeit am Webstuhl, Taddy war ganz in seinen eigenen Rhythmen aufgegangen, die abgearbeiteten Finger zupften sacht die Saiten, schwebten quasi darüber hin. Selbst das Meer schien verstummt zu sein. Kitty gewann nur durch das Pochen ihres Herzens die Gewissheit, dass man sie nicht ebenfalls ins Reich der Toten aufgenommen hatte. Sie fragte sich, ob sie die beiden ansprechen könnte oder sollte. Keine drei Sekunden sann sie darüber nach, schlich dann an ihnen vorbei, ohne einen von beiden anzusehen, stieg weiter die enge
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