Das Schwein kommt zum Essen: Roman (German Edition)
erstarrt, als der Mann an ihnen vorüberging und sie ebenso wenig beachtete wie seine Vorfahren, wenn sie die Dienste der Untergebenennicht brauchten oder sie einfach nur demütigen wollten.
Kitty ärgerte sich, wie ungeheuer dumm sie gewesen war, zu hoffen, George Noel Gordon würde ein Quäntchen Schuld oder Reue oder sogar Furcht empfinden. Statt seiner fühlte sie sich schuldig, bereute ihr Verhalten und hatte ihre Befürchtungen – und das zu Recht. Sie hatte vorhandene Leiden vergrößert, hatte durch ihre unbedachte Handlungsweise altes Unrecht wieder aufleben lassen. Bei dem Mann aber, der es am meisten verdiente, mit Schuldgefühlen gestraft zu werden, dem Burgherrn, dem Herrn der Ländereien, dem Landlord, war das ohne Wirkung geblieben. Nur Kitty und Brid und Taddy, die von entthronten Königen abstammten und die rechtmäßigen Erben von Herren und Knechten waren, von denen, die das Land bestellten und die See befischten, nur sie hatten ein Gespür für die uralten schmerzvollen Leiden. Und das war immer so gewesen.
Seiner Lordschaft bereitete es einige Mühe, die alte hölzerne Falltür anzuheben, die den Himmel ausschloss. Kitty bot an, sie hochzudrücken, doch er wollte es selbst schaffen. Schließlich war das seine Burg. Und alles, was darin war, musste sich ihm fügen.
Endlich stiegen sie hinaus und standen an den Zinnen.
Im Norden erstreckten sich die welligen Hügelketten, die bescheidenen Berge, gebeutelt von der über sie dahingegangenen Zeit, von Wind und Regen, von dem, was die Himmel sonst noch an Plagen aufzubieten hatten, und die sich trotz alledem mit heiligem Ernst vor dem Horizont abhoben. Sie waren grün und von niedrigen Wällen durchzogen. Stein um Stein hatte man der Erde abgerungen und zu Wällen aufgeschichtet, die den Acker des einen Landmanns von der Wiese des anderen abgrenzten; höher hinauf auf den Hängen unterhalb der Gipfel erstrecktensich die Wiesen der Gemeinde. Massige weiße Felsbrocken lagen gleichmütig, fast schicksalsergeben in der Sonne. Auch Schafe waren ohne erkennbares Muster in die Landschaft gesetzt und zogen im Schneckentempo hin zu Grasflächen, die ihnen noch grüner erschienen. Ein Sonnenstrahl funkelte wie ein Blitz auf dem Fluss, dann noch einer. Graue, von wild wachsenden Fuchsien und Geißblatt gesäumte Wege schlängelten sich durch die Landschaft, und die Schieferdächer der kleinen Häuser überraschten in der Nachmittagssonne mit einem schimmernden Blau. Ein Pick-up und ein Bus waren zur Stadt unterwegs, einem einzigen Gedränge von Gebäuden. Die einzelnen Häuser waren von hier oben nicht zu erkennen.
Lord Shaftoe stand an der Mauerbrüstung, reckte das ausdruckslose Kinn vor, genoss die Aussicht und war zufrieden mit dem, was er sah. Eine leichte Brise versuchte vergeblich, die zerknautschte Seidenkrawatte anzuheben. Während Kitty dem spielerischen Bemühen des Windes zuschaute, wandte sich der Lord nach Westen, dem Meer zu. Zwei Curraghs, altirische Flechtwerkboote, schaukelten in der Dünung vor Dunquin, und eine Fähre nahm von Dingle Kurs auf Great Blasket, die Insel, die sich sanft ansteigend als letztes Stück Land den Geheimnissen der See entgegenschob.
Auch jetzt betrachtete Lord Shaftoe mit Wohlgefallen, was sich seinem Blick darbot. Oder besser, so schien es jedenfalls Kitty, er stand reglos da wie ein Monarch, der die Huldigung seines Reichs entgegennimmt.
Unversehens hatte Kitty den Einfall, sich hinter ihn zu stellen, ihn kraftvoll hochzustemmen und über die Zinnen auf die Felsen unten zu stoßen. Ihn in diesem Augenblick des Hochgefühls herabzustürzen, würde mit Sicherheit zur Folge haben, dass er nicht nur am Fuße des Turms, sondern gleich in der Unterwelt landen würde.
In Kittys Rückgrat und in den Armen baute sich Kraft auf. Sie fühlte, wie sich die Muskeln in den Beinen und der Bauchdecke spannten. Auch die Lunge sicherte ihr bereitwillig Hilfe zu. Ihr gesamtes Wesen fieberte dem Vorhaben entgegen. Und was musste sie da sehen? Die Brust Seiner Lordschaft dehnte sich. Selbst die Luft machte er sich zu eigen. Kitty schäumte, der unheilvolle Gedanke erfüllte ihre Seele bis in die letzte Faser. Jetzt oder nie.
Doch ehe sie zur tödlichen Aktion ausholen konnte, bemächtigte sich ihrer – Hamlet gleich – eine andere Eingebung. Wenn sie ihn jetzt ins Jenseits beförderte, würde sie sich des zu erwartenden großen Moments berauben, da Seine Lordschaft im eigentlichen Sinne zur Strecke gebracht dalag. Nämlich,
Weitere Kostenlose Bücher