Das Schwein war’s: Kriminalroman (German Edition)
den haltlosen Füßen eine Stütze war. Seine Tante hatte den Kopf immer noch nicht erhoben.
»Kann ich sonst noch etwas tun?«
»Ruf Lolly McKeever an und sag ihr, sie soll herkommen und sich ihr Schwein holen.«
»Sie anrufen? Jetzt gleich?«, fragte Aaron.
»Jetzt gleich.« Kittys Stimme klang gedämpft.
Eine einsame Möwe zog hoch über Aarons Kopf ihre Kreise, bewegte kaum merklich die Fittiche, um sich den wechselnden Winden anzupassen, die von der See her wehten. Plötzlich schlug der Vogel heftig mit den Flügeln, geradezu verzweifelt, als ob aller Halt verloren sei und nur diese gewaltige Anstrengung ihn davor bewahrte, ins Wasser zu fallen. Die Möwe entschwand über der Klippe, Aaron hörte sie dann kreischend und schreiend die Elemente beschimpfen, die sie so schnöde betrogen hatten. Das Wasser war bis über seine aufgerollten Hosenbeine gestiegen. Die Flut war nicht am Zurückgehen, sie setzte erst ein. Seufzend machte Aaron kehrt und steuerte auf den Trampelpfad zu, der im Zickzack nach oben auf die Klippe führte. Das Wasser wurde kalt, kalt genug, um jedes Gefühl aus den Füßen zu treiben, wenn er sich nicht schneller bewegte. Er bewegte sich schneller.
Die See verhielt sich ruhig. Die Wellen waren kaum mehr als aufeinanderfolgende leichte Schwellungen, zu niedrig, um Kämme zu bilden, zusammenzufallen und zu schäumen. Sie flachten einfach ab und spielten ihre bescheidene Rolle in der Flut, die jetzt bis an Aarons Knie reichte. Da waren keine Wogen, die gegen die Steilküste links neben Aaron donnerten, da war keine Gischt, die ihm ins Gesicht schlug und in den Augen brannte. Da war nichts als der verstohleneund neckende Anstieg des Wassers, der unmerklich Zentimeter um Zentimeter an den Körperteilen Maß nahm und nun auch sie nass werden ließ: unterhalb des Knies, am Knie, überm Knie, am unteren Oberschenkel. Aaron hielt nach der Hochwassermarke an der Klippe Ausschau, woraus er schließen konnte, wie hoch die Flut steigen würde. Die Linie, bis zu der das Wasser die Felsen eingefärbt hatte, war deutlich. Sie reichte bis zu Aarons Nase.
Und schon kam er nur noch langsam voran. Das Wasser ging ihm bis zur Mitte des Oberschenkels, und es machte ziemliche Mühe, einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich da fortzubewegen, wo eben noch Strand gewesen war. Ihm war nicht erinnerlich, dass die Flut jemals eine solche Höhe erreicht und das ganze verfügbare Land am Fuße der Klippen in Beschlag genommen hatte. Zu seiner Linken sah er eine kleine Höhle, die er früher nie bemerkt hatte. Unter der abgerundeten Decke hing ein Stein, so groß wie ein Fußball, der sich gewiss bald lösen und mit fröhlichem Platschen in die steigende Flut fallen würde. War das ein versteinerter, von Menschen geschaffener Gegenstand? Das verlorengegangene und nun endlich ausgegrabene Spielzeug eines Druidenkindes? Aaron blieb keine Zeit, solchen Gedanken nachzuhängen. All seine Energien musste er auf die Beine konzentrieren, konnte sie nicht an die Synapsen verschwenden, die irrwitzig in seinem Hirn klickten.
Wiederum war es gar nicht so verkehrt, wenn der Kopf nach Ablenkungen suchte. Bei der Anstrengung, der es bedurfte, erst ein Bein zu heben und dann das andere, kamen ihm Erlebnisse aus einem Traum in den Sinn. Das langsame, mühsame Vorwärtsstreben, der irgendwie behinderte Bewegungsdrang, die Unfähigkeit der Glieder voranzukommen, und sei das Verlangen danach noch so dringend. Er hob die Arme, teils um seine Designer-Armbanduhr vor dem Nasswerden zu bewahren, teils um die Verwandlung seiner Arme in Schwingen zu beflügeln, wie er das so oft als Kindversucht hatte. Wenn die Natur das doch als eine Möglichkeit in Betracht ziehen wollte, wenn der Prozess der Evolution seinetwegen beschleunigt werden könnte, er wäre ungemein dankbar dafür. Oft genug war er im Traum geflogen. Es bedurfte nur einer geringfügigen Willensanstrengung, eines Aufschwungs der Geisteskräfte, der raschen Nutzbarmachung einer Fähigkeit, die er eigentlich besaß, aber immer wieder vergaß.
Er stapfte weiter, das eisige Wasser bedrängte das warme Blut seines Pimmels, seiner Eier, erzwang den Rückzug der bewegungsfreudigen Spermien. Zurück blieb ein zusammengeschrumpfter Fleischlappen und eine verschrumpelte Nuss, die beiden Anhängsel drohten infolge ihres Kraftverlusts und der daraus resultierenden Beschämung vollends zu verschwinden.
Unter den Füßen wurden die Kiesel spitzer, und selbst die zunehmende
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