Das Schwein war’s: Kriminalroman (German Edition)
Fühllosigkeit seiner Fußsohlen bot keinen Schutz gegen die Piekser und Stiche scharfer Steinkanten. Die verbreitete Annahme, dass das Wasser die Kiesel abrunden und die sie stetig waschende See die Oberflächen glätten würde, so dass man leicht darüber hinweggehen konnte, erwies sich als falsch. Es waren nicht mehr die Steine am Strand, sie gehörten jetzt zum Meer. Sie waren rachsüchtig, waren vergrätzt und wollten diese Landratte, diesen auf Schlick und Schlamm hausenden Eindringling, ihren Groll mit aller Kraft fühlen lassen. Aaron war sich gewiss, dass seine Fußsohlen aus tausend Schnitten bluteten, dass er einen beträchtlichen Beitrag leistete, die Flut karmesinrot einzufärben.
Vor ihm tauchte die mögliche Rettung auf – die riesige Steinplatte, die von der Klippe gekippt war und ihm den Weg versperrte. Das war Verhöhnung und Herausforderung in einem. Das Wasser ging ihm bis zur Hüfte. Lange würde sein Kreislauf nicht mehr mitmachen. Kraft hatte er noch und genügend Energie, nur war der Felsklotz an diehundert Meter entfernt. Er fragte sich, ob er sich ausziehen sollte und ob er, derart erleichtert, den Felsen schneller erreichen würde. Durch einen sonderbaren Zirkelschluss, der ohne seine bewusste Mitwirkung zustande kam, ließ er den Gürtel fahren. Behielt aber die übrige Kleidung an – wenigstens fürs Erste. Wenn die Sachen zu schwer würden, konnte er sie unterwegs abstreifen.
Er warf sich ins Wasser; die Schuhe, die immer noch mit den Schnürsenkeln zusammengebunden über der Schulter gehangen hatten, schwammen davon in Richtung Meer. Seine Armbanduhr, die wasserdicht sein sollte, wurde einer Prüfung unterzogen – einer richtig harten. Mit jedem Ausholen des Arms, mit jedem Eintauchen der Hand, setzte er sie dem Wasser aus, wurde wütend, dass er sich ihretwegen einen Kopf gemacht hatte, so pedantisch darauf bedacht gewesen war, sie zu schonen. Zug um Zug kam er dem Fels näher, war aber nur darauf aus, seine Uhr zu bestrafen. Er dachte an nichts anderes. Da, nimm das! Und das! Und das! Derart heftig angespornt, erreichte er die Felsplatte.
Er kletterte hinauf. Ohne seine Sachen auf dem Leib wäre ihm das nicht gelungen, die Haut wäre zu schlüpfrig gewesen, so aber schmiegten sich das grobe Baumwollhemd und das starke Gewebe seiner Khaki-Hosen recht gut an die Sandsteinfläche. Er fand mit den Händen Halt, hievte sich mit ein paar Klimmzügen aus dem Wasser und warf sich mit ausgebreiteten Armen auf die kalte Fläche. Einige Augenblicke lag er still, er hatte es geschafft, hatte den Felsen bezwungen, war aber zu erschöpft, um sich zu einem Entschluss aufzuraffen. Natürlich warf er einen Blick auf die Uhr. Der Sekundenzeiger machte seine Runden über das Zifferblatt. Der große Zeiger stand zwischen der Sieben und der Acht, der kleine näherte sich der Drei. Demnach musste es etwa zwanzig vor drei irischer Zeit sein. Er schloss die Augen, zählte bis drei und öffnete sie. Ein paar Mal atmete er tief durch, zog den Salzgeruch des Felsensein und dachte an längst vergangene Sommertage. Er durfte nicht länger seiner Schwäche nachgeben. Er war nicht an Land geworfen worden, hatte sich nicht von einem gestrandeten Schiff gerettet. Er war einfach ein Stück geschwommen. Nichts weiter. Er hatte kein Recht, erschöpft zu sein. Er war schließlich ein hervorragender Schwimmer, war es jedenfalls gewesen. Vor einigen Jahren hatte er sogar eine Medaille gewonnen für die erfolgreiche Teilnahme an einem Schwimmwettbewerb vor der Küste von Long Island. Was er jetzt geleistet hatte, war im Vergleich damit rein gar nichts. Er war nass geworden und fror. Bald würde er wieder trocken und ihm würde warm sein. Und dass er eben geschwommen war, hatte, wenn er es recht überlegte, seine Energien eher geweckt als geschwächt. Nachdenklich setzte er sich auf.
In der Ferne winkten ihm zwei Männer in einem Fischerboot zu, doch schon galt ihre Aufmerksamkeit der anderen Seite des Bootes. Möwen waren jetzt nicht unterwegs, nur eine Krähe kreiste in der Höhe und lachte krächzend über Aarons missliche Lage. Das Wasser schien nicht weiter zu steigen, aber die Wellen begannen Kämme zu bilden, brachen sich und sprühten ihre Gischt gegen den Felsen, enttäuscht, nicht einmal seine Zehen zu erreichen.
Es war nun wirklich an der Zeit, über Phila Rambeaux zu meditieren, einsam und verlassen auf diesem Felsblock sitzend, den Blick aufs Meer gerichtet, und über den Verlust und die Unwägbarkeiten
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