Das Schwert der Keltin
blind und taub gegen die mit seinem Rang verbundenen Pflichten. Früher einmal hatten ihn Jugend und Leidenschaft vor den Realitäten des Lebens geschützt, aber inzwischen war er nicht mehr Sklave seiner Impulse. Seine Beförderung zum Duplikarius war erst kürzlich erfolgt, eine seit langem angestrebte und äußerst geschätzte Beförderung, und deshalb ignorierte er sowohl die Schönheit der Welt um ihn herum als auch ihre zahlreichen Verlockungen und suchte stattdessen nach den Anzeichen für eine Vielzahl möglicher Katastrophen.
Er brauchte nicht lange zu suchen. Die zu den Latrinen führenden Wasserrohre waren eingefroren; das entdeckte er fast sofort. Er benutzte die Latrine aber trotzdem, wohl wissend, dass seine Hinterlassenschaft so lange dort liegen bleiben und stinken würde, bis die Wasserspülung wieder in Gang gebracht werden konnte. Er war allerdings nicht der Erste; außer ihm war noch jemand in aller Frühe aufgestanden und hatte das gleiche dringende Bedürfnis verspürt. Und auch dieser andere war nach dem letzten Schneefall gekommen. Ein Paar Stiefel hatte deutliche Abdrücke in der Schneedecke hinterlassen, und Valerius folgte den Fußspuren für eine Weile, bis sich ihrer beider Wege trennten - die Stiefelabdrücke bogen nach links ab, zu dem östlichen Tor und dem dahinter liegenden Nebengebäude, in dem der erst jüngst aus Rom eingetroffene Kavallerieflügel untergebracht war, während Valerius nach rechts ging, zu den Pferdeställen, wo seine Pflicht lag.
Die Lampen in den Stallgebäuden brannten noch immer vorschriftsmäßig; zwei Männer wären zur Strafe ausgepeitscht worden, hätten sie sie über Nacht einfach verlöschen lassen. In dem hellen Licht der Lampen konnte Valerius sehen, dass die Pferde seines eigenen Kommandos ruhig waren und keines der Stalldächer unter dem zusätzlichen Gewicht des Schnees eingestürzt war. Das war seine größte Sorge gewesen, und er war äußerst froh darüber, dass sich seine Befürchtung nicht bewahrheitet hatte. Er holte eine Hand voll Getreide aus dem Futterraum und ging dann an der langen Reihe von Pferden entlang, um die Körner sparsam an diejenigen Tiere auszuteilen, die zu ihm kamen. Ganz am Ende der Reihe, durch eine schmale Gasse von den übrigen Kavalleriepferden getrennt, stand ein Schecke, dessen Fell eine eigenartige, sehr auffällige Zeichnung aufwies: Er war tiefschwarz und von unregelmäßig geformten weißen Streifen durchzogen, die von Hinterkopf, Widerrist und Kruppe aus abwärts liefen, so als ob der Nachthimmel auf sein Fell gelegt worden wäre und die Götter es dann mit Milch bespritzt oder Eissplitter darauf verteilt hätten.
Dieses eine Pferd beugte sich nicht zu Julius Valerius vor, um seine Handfläche behutsam mit den Lippen anzustupsen und die angebotenen Körner zu fressen, so wie alle andere Pferde es getan hatten, sondern warf sich abrupt und mit aller Kraft nach vorn und reckte sich weit über die Boxentür, um mit gefletschten Zähnen nach Valerius’ Umhang zu schnappen. Er schlug den Kopf des Hengstes mit der Kante seiner Faust weg, was den Schecken jedoch nicht davon abhielt, gleich noch einmal auf ihn loszugehen, diesmal noch schneller, den Kopf schlangengleich herumwerfend, die Ohren flach angelegt, die Augen wild rollend, so dass das Weiße zu sehen war, die riesigen Zähne gebleckt.
Valerius wollte gerade ausweichen und sich seitwärts zwischen die bedrohlich näher kommenden Pferdezähne und die Tür schieben, als urplötzlich eine Stimme sagte: »Dann ist er also wirklich ein so übler Bursche, wie es allgemein heißt?«
Valerius hatte sich ganz allein im Stall gewähnt. Der Schreck darüber, dass dem nicht so war, ließ ihn für einen Sekundenbruchteil erstarren, nur gerade so lange, dass die gefletschten Zähne des Schecken mit niederschmetternder Wucht auf das Fleisch seiner Schulter treffen konnten. Valerius stürzte wie von einem Schlaghammer getroffen zu Boden.
Es wäre schwer zu sagen gewesen, wer von ihnen erschrockener war. Der Hengst wich ruckartig zurück und warf den Kopf hoch. Er wirbelte in seiner Box herum und keilte wild mit seinen Hufen nach den Wänden aus, erzeugte dabei einen solchen Lärm, dass sämtliche anderen Pferde unruhig wurden. Der Fremde war ruhiger, war sich seiner Schuld aber deutlicher bewusst. Er streckte Julius Valerius die Hand hin, um ihm beim Aufstehen zu helfen.
»Tut mir Leid. Ich hätte nicht so unvermittelt hier hereinplatzen dürfen. Man hat mir erzählt, er
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