Das Schwert der Keltin
halten sie sich zurück?«
Cygfa dachte genau wie ihr Vater oder vielleicht wie Longinus. An Longinus zu denken war jetzt allerdings keine sonderlich gute Idee. Longinus nämlich war derjenige, dem für die Zeit der Abwesenheit seines Dekurio die Verantwortung für den Kavallerieflügel übertragen worden war. Das Abschiednehmen voneinander war ihnen nicht leicht gefallen, doch andererseits war ihr Verhältnis seit Valerius’ Rückkehr aus Rom und seinem damit gestiegenen Bedürfnis nach Wein ohnehin nicht mehr einfach gewesen.
Valerius schob sich vorsichtig zurück zu einer Stelle, wo er aufrecht sitzen konnte, ohne gesehen zu werden. Zwar war das vielleicht gar nicht nötig, doch in ihrem Verstecktsein lag immerhin ein gewisser Ehrenkodex; der nämlich, dass man einen Krieger einfach nicht sehen durfte. »Sie warten noch auf ein Signal«, erklärte er. »Sobald sie das erhalten haben, werden sie uns angreifen.«
»Oder sie warten, bis Claudius endlich tot ist.«
»Das ist das Gleiche.« Valerius ließ sich nun langsam die Böschung hinabgleiten, bis in die Mulde des kleinen Tales hinein, und stellte dabei fest, dass seine Ausdrucksweise ähnlich hölzern klang wie das einfache Latein Cygfas. »Wenn Claudius stirbt und Nero zum Kaiser gemacht wird, kommt das Signal. Dann stehen sie zweifelsfrei unter dem Kommando von Agrippina und können handeln, ohne die Schande des Verrats auf sich zu laden.«
Cygfa schnaubte verächtlich. »Dann ist es in den Augen der Römer also ehrenhaft, ein vierzehn Tage altes Kind zu töten, wenn der Befehl von der Frau kommt, die die Mutter des Kaisers ist, aber nicht, wenn er kommt, wenn sie nur seine Frau und zugleich seine Nichte ist?«
In der kleinen Mulde hatten sich die abgebrochenen Äste der Bäume gesammelt. In der Mitte lag der hohle Körper eines Buchenstumpfes, übersät mit den giftig leuchtenden Sporen von roten und orangefarbenen Pilzen und den alten Hinterlassenschaften kleiner Nagetiere. Valerius sprang auf den alten Baumstamm und ließ ihn unter seinen Füßen so lange hin- und herrollen, bis dieser langsam immer weiter zerfiel. Er passte den Rhythmus seiner Bewegungen dem Hämmern in seinem Kopf an, konnte den Schmerz dadurch etwas dämpfen. Valerius dachte, dass das Mädchen nun vielleicht allein weiterwandern würde, doch sie wartete noch immer und auch in ihren Augen lag weiterhin diese alberne Frage nach dem römischen Begriff der Ehre - ungeachtet der Tatsache, dass genau dieser Ehrbegriff es war, der sie die vergangenen vierzehn Tage am Leben erhalten hatte.
Ganz unverblümt fragte Valerius sie: »Hast du schon jemals einen Mann im Kampf getötet?«
Der Blick aus Cygfas grauen Augen bohrte sich geradezu in ihn hinein. Dann legte sie einen Finger an die oberste ihrer Federn. »Du hast mich doch dabei beobachtet.«
»Und auch sie waren Männer, die einst vierzehn Tage alte Säuglinge waren. Trotzdem hast du sie, ohne zu zögern, getötet, nicht wahr?«
»Das ist etwas anderes.«
»Ist es das? Ist das Leben eines erwachsenen Mannes, der das Leben liebt und genau weiß, was er zu verlieren hat, denn weniger wert als das eines Säuglings, der nur die Geborgenheit des Mutterleibs kennt und die nährende Wärme der Brust seiner Mutter? Ich denke nicht.« Ein Fuchsrüde hatte den Baumstamm als Markierungsstelle seines Reviers benutzt. Nun, mit den steten, schaukelnden Bewegungen des Baumstumpfes, stieg sein Moschusgeruch geradezu durchdringend empor, so metallisch wie Pferdeschweiß und die Tränen der Toten. Valerius atmete tief ein und fuhr dann fort: »Das ist nun mal die Realität des Krieges. Und ein Kind, das heute getötet wird, kann wenigstens nicht mehr zu einem Krieger heranwachsen, der dir zwanzig Jahre später seine Klinge in den Rücken stößt: Und genau diese Verkettung könnte es sein, die dich dereinst am Leben erhalten wird. Du bist doch eine Kriegerin; du müsstest das also eigentlich wissen.«
»Aber wir würden niemals die Kinder unserer Feinde töten«, entgegnete Cygfa.
»Ich weiß. Und das ist auch der Grund, warum ihr den Krieg verlieren werdet und wir nicht.«
Damit sprang Valerius von dem Baumstamm herunter und begann, sich seinen Weg durch das dahinterliegende Dorngebüsch zu kämpfen. Doch Cygfas Stimme verfolgte ihn noch immer.
»Wenn du uns so sehr verabscheust«, fragte sie, »warum leben wir dann noch?«
Während der gesamten, nun schon einen halben Monat dauernden Reise hatte keiner von ihnen jemals die Frage geäußert,
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