Das Schwert der Vorsehung
...«
»Unterbrich mich nicht«, sagte sie scharf. »Ich erzähle ein Märchen, hast du das nicht bemerkt? Hör weiter. Der böse, grausame Hexer stampfte mit dem Fuß auf, fuchtelte mit den Armen und schrie: ›Hüte dich, Ungetreue, fürchte die Rache des Schicksals. So du das Gelöbnis nicht erfüllst, wirst du der Strafe nicht entgehen.‹ Die Königin aber erwiderte: ›Gut denn, Hexer. Es soll sein, wie das Schicksal es will. Dort, siehe, da spielen zehn Kinder. Du wirst erkennen, welches davon dir vorherbestimmt ist, es als deines mitnehmen und mich mit gebrochenem Herzen zurücklassen.‹«
Der Hexer schwieg.
»Im Märchen« – Calanthes Lächeln wurde immer bedrohlicher – »würde die Königin, wie ich mir vorstelle, dem Hexer erlauben, dreimal zu raten. Wir sind aber nicht mehr im Märchen, Geralt. Wir sind hier in der Wirklichkeit, du und ich und unser Problem. Und unsere Vorherbestimmung. Das ist kein Märchen, das ist das Leben. Das lausige, böse, schwere Leben, das nicht mit Irrtümern, Kränkungen, Leid, Enttäuschungen und Unglücken geizt, das niemandem all dieses vorenthält, weder Hexern noch Königinnen. Und darum, Geralt von Riva, wirst du nur einmal raten.«
Der Hexer schwieg weiter.
»Nur ein einziges Mal«, wiederholte Calanthe. »Aber, wie gesagt, das ist kein Märchen, sondern das Leben, das wir uns selber mit Glücksmomenten anfüllen müssen, denn auf das Schicksal und seine Gunst kann man, wie du weißt, nicht zählen. Darum wirst du, unabhängig vom Ausgang des Ratens, nicht mit leeren Händen hier fortgehen. Du wirst ein Kind mitnehmen. Das, auf welches deine Wahl fällt. Ein Kind, aus dem du einen Hexer machst. Falls das Kind die Kräuterprobe besteht, versteht sich.«
Geralt hob heftig den Kopf. Die Königin lächelte. Er kannte dieses Lächeln, gemein und boshaft, dadurch so verächtlich, dass es seine Künstlichkeit nicht verhehlte.
»Du wunderst dich«, stellte sie fest. »Nun ja, ich habe mich ein wenig kundig gemacht. Da Pavettas Kind möglicherweise ein Hexer wird, habe ich mir die Mühe gemacht. Meine Quellen, Geralt, schweigen aber darüber, wie viel Kinder von zehn die Kräuterprobe überstehen. Willst du nicht meine Neugier in dieser Hinsicht befriedigen?«
»Königin.« Geralt räusperte sich. »Du hast dir bei deinen Nachforschungen sicherlich genug Mühe gemacht, um zu wissen, dass mein Kodex und mein Eid mir verbieten, diese Bezeichnung auch nur zu nennen, geschweige denn, darüber zu diskutieren.«
Calanthe hielt mit einem Ruck die Schaukel an, indem sie den Absatz in den Boden bohrte.
»Drei, höchstens vier von zehn«, sagte sie und nickte in gespielter Nachdenklichkeit. »Eine scharfe Auslese, eine sehr scharfe, würde ich sagen, und das auf jeder Etappe.Zuerst die Auswahl, dann die Proben. Und dann die Umwandlungen. Wie viele Halbwüchsige erhalten am Ende Medaillons und silberne Schwerter? Einer von zehn? Einer von zwanzig?«
Der Hexer schwieg.
»Ich habe lange darüber nachgedacht«, fuhr Calanthe fort, nun schon ohne Lächeln. »Und bin zu dem Schluss gelangt, dass die Auslese der Kinder in der Etappe der Auswahl vernachlässigbar ist. Welchen Unterschied macht es schließlich aus, was das für ein Kind ist, das da vollgestopft mit Narkotika stirbt oder verrückt wird? Was macht es, wessen Hirn im Fieberwahn birst, wessen Augen platzen und auslaufen, statt Katzenaugen zu werden? Ist da ein Unterschied, ob das Kind, das am eigenen Blut und Erbrochenen erstickt, wirklich von der Vorsehung bestimmt oder irgendein zufällig ausgewähltes Kind ist? Antworte mir.«
Der Hexer verschränkte die Hände vor der Brust, um ihr Zittern unter Kontrolle zu bekommen.
»Wozu?«, fragte er. »Erwartest du eine Antwort?«
»Stimmt, ich erwarte keine.« Die Königin lächelte wieder. »Wie immer bist du unfehlbar in deinen Schlussfolgerungen. Aber wer weiß, vielleicht wäre ich, ohne eine Antwort zu erwarten, geneigt, deinen freiwilligen und aufrichtigen Worten einige Aufmerksamkeit zu widmen? Den Worten, die du, wer weiß, vielleicht gern von dir geben möchtest, und mit ihnen das, was dir die Seele bedrängt? Aber wenn nicht, dann eben nicht. Weiter, machen wir uns an die Arbeit, wir müssen die Märchenerzähler mit Stoff versorgen. Gehen wir das Kind auswählen, Hexer.«
»Calanthe«, sagte er und blickte ihr in die Augen. »Es lohnt nicht, sich um die Märchenerzähler zu sorgen; wenn ihnen das Material nicht reicht, denken sie sich sowieso was aus. Wenn
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