Das Schwert der Wahrheit 9: Die Magie der Erinnerung (German Edition)
weiter einen Fuß vor den anderen zu setzen, in Bewegung zu bleiben und voranzukommen, versuchte er sein ganzes Bestreben zu widmen.
Als sie endlich den Oberrand der Felsenklippe und das ausgedehnte Sumpfgebiet erreicht hatten, das den Zugang zu Shotas Heim sicherte, hatte sich das frühe Dämmerlicht bereits über den tiefen Einschnitt in dem hoch aufragenden Gebirge gelegt, das diesen Ort wie ein Ring umschloss. Weil die steilen Felswände das Sonnenlicht bereits früh fern hielten, war der weite Himmel noch tiefblau, doch seine Helligkeit vermochte das dichte Laubdach des Waldes nicht wirkungsvoll zu durchdringen, sodass das endlose grüne Sumpfgebiet bereits am späten Nachmittag im ständigen Dämmer der hereinbrechenden Nacht zu versinken schien. Die tiefen Schatten unterschieden sich von denen in Shotas Tal, denn hier verbargen sie durchaus handfeste, ansonsten aber eher gewöhnliche Gefahren. In den Schatten rings um Shota dagegen verbargen sich Gefahren, die nicht so leicht einzuschätzen waren, die einem aber, vermutete Richard, auf sehr viel unangenehmere Weise zu schaffen machen konnten.
Die Geräusche des feuchten Sumpfes ringsum, das Zirpen und Pfeifen, Heulen und Johlen, das Schnalzen und die fernen Schreie, all das drang kaum bis in Richards Bewusstsein vor, der tief in seiner ganz eigenen Welt versunken war, einer Welt, in der Verzweiflung und zielgerichtete Entschlossenheit in einem titanischen Wettstreit miteinander rangen.
Gewiss, Shota hatte ihm eine Menge über die Blutbestie sagen können, die Jagd auf ihn machte, andererseits hatte ihm auch Nicci schon erklärt, dass er von einer auf Jagangs Geheiß erschaffenen Bestie verfolgt wurde. Die eher dürftigen Einzelheiten, die er über diese Bestie erfahren hatte, hatten den Besuch bei Shota sicher nicht gelohnt, erst die herzlich kargen Worte, mit denen Shota ganz am Ende herausgerückt war, waren für ihn wirklich von Bedeutung. Ihretwegen hatte er die Reise an diesen Ort unternommen, ihretwegen hatte er einen Preis bezahlt, dessen Bedeutung ihm erst jetzt so richtig bewusst wurde. Immer wieder war er versucht, sich mit einem Griff zum Heft seines Schwertes zu beruhigen, doch die vertraute und treue Waffe war nicht mehr da.
Sosehr er sich bemühte, nicht daran zu denken, der Gedanke ließ ihn nicht mehr los. Einerseits war er erleichtert, weil es ihm, dessen war er sich ganz sicher, gelungen war, einen entscheidenden Hinweis zu bekommen, gleichzeitig aber verspürte er das erdrückende Gefühl einer persönlichen Niederlage.
Er achtete kaum darauf, wohin er lief, gerade nur so weit, dass er nicht auf eine gelbschwarz gestreifte Schlange trat, die er zusammengerollt in der Mulde einer Wurzel liegen sah, und sich die pelzigen, an den Unterseiten der Blätter haftenden Spinnen nicht geräuschlos an ihrem seidenen Faden herab- und auf ihn fallen ließen. Fauchte ihn aus einem Gestrüpp heraus etwas an, machte er einen weiten Bogen darum.
Richard bahnte sich zielstrebig einen Weg durch das dichte Gestrüpp, bog Ranken und Zweige zur Seite und stieg behutsam über Wurzelknoten hinweg, die sich, wenn man sich ihnen näherte, bisweilen schlangenähnlich ringelten. Gleich bei seinem ersten Besuch hatte Samuel ihm demonstriert, wie sich diese Wurzeln einem um die Knöchel schlängeln konnten, wenn man ihnen zu nahe kam. Der Versuch, den Begriff »Feuerkette« zu entschlüsseln und herauszufinden, was sich dahinter verbarg, nahm ihn so sehr in Anspruch, dass er um ein Haar in eine schwarze, im trüben Licht kaum zu erkennende Wasserfläche hineingetreten wäre; Cara konnte ihn gerade noch rechtzeitig mit der Hand am Arm zurückreißen. Nachdem er sich kurz umgesehen hatte, entdeckte er den Baumstamm, auf dem sie sie zuvor überquert hatten, und nahm stattdessen diese Route.
Er zermarterte sich das Hirn bei dem Versuch herauszufinden, ob er den Begriff Feuerkette irgendwann schon einmal gehört hatte, aber mittlerweile schwand seine Hoffnung ebenso rasch dahin wie das nur noch spärlich vorhandene Tageslicht. Immerhin schien der Begriff merkwürdig genug, dass er sich mit einiger Sicherheit daran erinnert hätte, wenn er ihm schon einmal begegnet wäre. Er wünschte, Shota hätte wenigstens seine Herkunft oder Bedeutung gewusst; aber er glaubte ihr, wenn sie sagte, ihr flögen diese Dinge ohne jede Erklärung oder Einsicht einfach zu.
Allerdings fürchtete er, nur zu genau zu wissen, was Shota mit der Bemerkung »Was du suchst, ist lange begraben«
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