Das Schwert des Königs - Dark City ; 3
geflogen kam, er sah das schreckensbleiche Gesicht seines kleineren Bruders, er sah den ganz in Schwarz gekleideten Ritter, der mit vorgerecktem Kinn auf seiner braunen Stute saß, als wäre es ihm egal, ob der Knabe vor der Zielscheibe getroffen würde oder nicht. Er sah in Zeitlupe, wie der Pfeil immer näher kam und genau auf Albertos Brust zuschoss. Hätte er sich nicht dazwischen geworfen, wäre der Pfeil mitten in seines Bruders Herz gedrungen.
Yasin betrachtete den Pfeil, der noch immer in seinem linken Oberarm steckte. Er hob den Arm, drehte ihn etwas zur Seite, fasste den Pfeil mit der rechten Hand und versuchte vorsichtig, ihn ein Stück weit aus dem Arm zu ziehen. Erstaunlicherweise verspürte er keinerlei Schmerzen dabei. Also zog er weiter an dem Pfeil, bis er ihn mit einem letzten Ruck aus dem Arm herauszog.
Komisch, wunderte er sich, hat überhaupt nicht wehgetan.
Er warf den blutbeschmierten Pfeil in den Mülleimer, berührte mit seinem Finger die Stelle, wo der Pfeil in seine Haut eingedrungen war, und dann, ja, dann geschah etwas Merkwürdiges: Die Wunde wuchs zu! Vor seinen Augen schloss sich sowohl die Eintritts- als auch die Austrittswunde innerhalb weniger Sekunden, und zurück blieb ein völlig gesunder Arm, an dem lediglich etwas Blut klebte. Yasin war platt.
«Bei Shaíria, das gibt’s doch nicht!» Er winkelte den Arm an, öffnete ihn wieder, drückte auf die Stelle, wo gerade noch der Pfeil gesteckt hatte, und schüttelte nur immer wieder den Kopf. Die Wunde war verheilt, einfach so, ganz von selbst! Yasins Herz begann wild zu klopfen.
Was geschieht mit mir?, dachte er. Was hat das zu bedeuten? Bin ich … werde ich vielleicht … Er weigerte sich, den Gedanken, der ihm unwillkürlich kam, zu Ende zu denken. Doch die Schlussfolgerung war so naheliegend, dass ihm dabei schlecht wurde.
Ich bin ein Hexer!, durchfuhr es ihn. Ich heile von selbst! Das ist nicht normal! Das ist absolut nicht normal! Bei Shaíria, das darf doch nicht wahr sein!
Er erinnerte sich daran, dass er in seinem ganzen Leben noch nie krank gewesen war. Natürlich hatte er sich nie etwas dabei gedacht. Was war schon dabei, ein stets gesunder Junge zu sein? Aber das hier, das war etwas ganz anderes. Das hier, das war unheimlich! Wunden konnten nicht innerhalb weniger Sekunden verheilen! So etwas gab es nicht! So etwas war nur möglich, wenn man ein Hexer war. Aber das wollte er nicht sein! Das durfte er nicht sein! Auf keinen Fall!
Hexen und Hexer waren der Abschaum der Gesellschaft. Sie waren anders. Sie besaßen Fähigkeiten, die nicht normal waren. Sie hatten übernatürliche Kräfte und waren durch und durch böse und verschlagen. Sie waren es, die den Nebel gebracht hatten und die schuld an der ewigen Dunkelheit waren. Der Fluch, den sie über Dark City gebracht hatten, konnte nur gebrochen werden, wenn alle von ihnen bis zum Letzten ausgerottet würden.
Yasin hasste die Hexen und wünschte sich, dass jede von ihnen eines qualvollen Todes sterben würde, um für das zu büßen, was sie ihnen angetan hatten. Doch was war, wenn er dabei war, sich selbst in einen von ihnen zu verwandeln?
«Es kann nicht sein», murmelte er verwirrt und entsetzt, «ich bin keiner von denen! Ich heile nicht von selbst. Ich bin ein ganz normaler Junge. Ein ganz normaler Junge! Es gibt bestimmt eine logische Erklärung für das, was mit mir passiert ist. Kein Grund zur Aufregung, Yasin. Kein Grund zur Panik.»
Wie zum Beweis nahm er seinen Dolch vom Gürtel und fügte sich damit kurzerhand selbst eine Schnittwunde am Arm zu.
«Siehst du», sagte er sich triumphierend, als die Wunde zu bluten begann, «du blutest. Du bist verletzt und blutest wie jeder andere normale Mensch. Es ist alles in bester Ordnung.»
Doch kaum ausgesprochen, wuchs der Schnitt einfach wieder zu. Nicht mal eine Narbe blieb zurück. Die Haut war vollkommen heil! Yasin starrte mit offenem Mund auf seinen Arm und wollte das alles einfach nicht glauben. Er hörte Schritte und Stimmen auf dem Korridor, und dann wurde die Türklinke hinuntergedrückt. Rasch hechtete Yasin in eine der Toiletten und setzte sich auf die Kloschüssel. Er hörte, wie zwei Jungs sich unterhielten.
«Ich sag’s dir, es gibt mehr Hexen, als wir denken. Mein Nachbar war einer.»
«Dein Nachbar?»
«Ja. Ein unscheinbarer Mann. Immer freundlich. Nicht weiter auffällig, bis vor einigen Tagen ein paar Soldaten mit einem kleinen blonden Jungen in unser Viertel kamen. Der Junge war kaum
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