Das Schwert des Königs: Roman (German Edition)
Vollständig bekleidet war sie zum Lager zurückgekehrt, hatte sich ohne ein Wort schlafen gelegt und war wie üblich bei Morgenanbruch aufgestanden. Sie verhielt sich so, als wäre nichts Ungewöhnliches passiert, und das tat ich auch. Ich konnte kaum fassen, dass sie mich so ungeschoren davonkommen ließ, und rechnete ständig mit dem Tiefschlag, zu dem sie sicher irgendwann ausholen würde. Aber sie verzichtete darauf.
Ich wandte meine Gedanken wieder der Gegenwart zu. »Ruhig Blut, meine Süße«, murmelte ich der Stute zu, als wir auf die Reste des dritten Hinweises stießen. Um den hinterhältigen Weg am Rande der Schlucht entlang zu vermeiden, hatte ich diesmal eine andere Route gewählt, die um den Fuß des Berges herumführte. »Dir passiert schon nichts.« Mit klappernden Hufen stampfte sie nervös auf dem felsigen Boden herum und warf immer wieder den riesigen Kopf zurück. Ich begriff nicht, wieso diese dritte Felszeichnung sie mehr beunruhigte als die vorhergehenden, gab aber schließlich nach und
führte sie ein Stück den Abhang hinunter. Danach kehrte ich um, weil ich mir die Skizze näher ansehen wollte.
Als wir vor dreizehn Jahren auf diesen dritten Hinweis gestoßen waren, hatte das in Stein gemeißelte Relief eine reitende Frau gezeigt, ausgeführt im Stil der Künstler von Delavan, das weit im Osten lag. Damals hatte mich das verwirrt, allerdings hatte ich später eine Erklärung dafür gefunden.
Da das Relief in einer Felsspalte wie in einem Schrein verborgen lag, hätten wir es übersehen, wäre die Stelle nicht in der Karte verzeichnet gewesen. Als wir diesen Wegweiser gefunden hatten, wussten wir, dass wir nahe am Ziel waren.
Doch jetzt war dieser Hinweis vollständig ausgelöscht. Irgendjemand musste das Relief so aus dem Felsgestein herausgemeißelt haben, dass nur ein flacher, ausgezackter Trichter zurückgeblieben war. Den Meißel auf so engem Raum anzusetzen, musste unglaublich schwierig gewesen sein – fast ein Ding der Unmöglichkeit. Aus Gründen, die für mich auf der Hand lagen, konnte es keiner von Eponas Leuten getan haben. Doch wer sonst hatte diese Darstellung so sehr gehasst?
Das Gebiet rings um die Felsspalte bot eine großartige Aussicht auf die umliegenden Berge. Wie hoch die Gipfel in der Ferne waren – einschließlich der Spitze des Ogachic-Berges, nach dem das Gebirge benannt war –, bezeugten ihre Schneekappen. Die Zacken der näher liegenden niedrigeren Berge hoben sich deutlich vor dem Himmel ab. Diese Berge drängten sich so eng aneinander, dass man sich kaum vorstellen konnte, jemand könnte
Lust haben, dort zu wandern – schon gar nicht, dort zu leben.
Nichts deutete darauf hin, dass unser alter Weg in jüngster Zeit benutzt worden war. Vermutlich war seit der Zeit, als ich nach meiner Begegnung mit Epona auf dieser Route meinen Rückzug angetreten hatte, niemand mehr auf diesem Pfad entlanggeritten.
In dieser dünnen, trockenen Luft vollzogen sich alle Veränderungen nur über sehr lange Zeiträume hinweg. Welche Veränderungen mochten in dem verborgenen Tal auf mich warten?
Natürlich war mir klar, dass ich mit solchen Überlegungen das Unvermeidliche lediglich hinausschob, doch es schien mir der geeignete Moment zum Nachdenken. Ich musste dafür sorgen, einen klaren Kopf zu bekommen, ehe ich den letzten Teil meiner Reise in Angriff nahm. Ich wusste, was ich in dem Tal zurückgelassen hatte, aber nicht, worauf ich jetzt dort unten stoßen und welche Gefühle es in mir auslösen würde.
So schnell es das unwegsame Gelände zuließ, trug mich meine Stute nach unten, über Pässe hinweg und durch tiefe Schluchten. Es war derselbe Weg, den Kathi und ich damals genommen hatten, bis wir schließlich an der Haustür der Königin der Pferde angekommen waren.
Damals hatten wir allerdings viel länger dazu gebraucht, da wir zu Fuß unterwegs waren. Ständig die Karte zurate ziehend, stiegen wir von den Bergen hinab und gelangten schließlich bis zu einem Höhenkamm, auf dem wir Rast machten. Nicht nur die Erschöpfung, auch der Anblick, der uns dort erwartete, verschlug uns den Atem.
Unter uns sahen wir ein kleines Tal, ringsum geschützt von Höhenrücken und Hügelkuppen. Im Gegensatz zur übrigen Gebirgskette oder der Landschaft rings um Poy Sippi strotzte dieses Tal vor sattem Grün. Auf den sanften Hügeln wechselten sich Wiesen und Wälder ab, und der Sonnenschein ließ unzählige Teiche und Bäche glitzern. Gräser und Bäume wuchsen hier
Weitere Kostenlose Bücher