Das Schwert des Liktors
einherginge. Sie betrachten die Tiere und wünschen sich, wie diese zu werden, nur von Trieben, und nicht vom Denken geleitet. Weißt du, was dich denken läßt, kleiner Severian?«
»Mein Kopf«, antwortete der Knabe prompt und umfaßte ihn mit den Händen.
»Auch Tiere haben einen Kopf – sogar sehr blöde Tiere wie Krebse, Ochsen und Zecken. Was dich denken läßt, ist nur ein kleiner Teil deines Kopfes direkt über den Augen.«
Ich tippte ihm auf die Stirn. »Wenn du dir nun aus irgendeinem Grund die Hand abnehmen lassen willst, so gibt es Leute, an die du dich wenden kannst, die das beherrschen. Nehmen wir doch einfach an, du hast ein Leiden an der Hand, das nie mehr heilen wird. Sie könnten sie entfernen, ohne den übrigen Körper groß zu gefährden.«
Der Knabe nickte.
»Nun gut. Die gleichen Leute können jenen kleinen Teil deines Kopfes, der dich denken läßt, herausnehmen. Sie können ihn natürlich nicht wieder einfügen. Und selbst wenn sie’s könnten, könntest du sie nicht mehr darum bitten, wäre er erst einmal draußen. Aber manchmal bezahlen Leute Geld dafür, diesen Teil entfernt zu bekommen. Sie wollen nie mehr denken und sagen oft, sie möchten all dem, was die Menschheit getan hat, den Rücken zukehren. Dann ist es nicht mehr recht, sie als Menschen zu behandeln – sie sind zum Tier geworden, obwohl sie noch menschliche Gestalt haben. Du wolltest wissen, warum sie keine Kleider tragen. Sie verstehen nicht mehr, was es mit Kleidern auf sich hat, also ziehen sie keine an, auch wenn es sie noch so friert, obwohl sie sich durchaus darauf betten oder sich gar darin einrollen.«
»Bist du auch ein bißchen so?« fragte der Knabe, wobei er auf meine bloße Brust zeigte.
Was er damit andeuten wollte, war mir noch nie in den Sinn gekommen, so daß es mir fast die Sprache verschlug. »Das ist die Vorschrift meiner Zunft«, antwortete ich dann. »Mir fehlt nichts im Kopf, wenn du das meinst, und ich habe früher Hemden getragen … Aber ja, ein bißchen bin ich wohl so, weil ich’s noch nie bedacht hab’, auch wenn’s mir sehr kalt gewesen ist.«
Seine Miene verriet mir, daß ich seinen Verdacht bekräftigt hatte. »Läufst du deshalb davon?«
»Nein, deshalb laufe ich nicht davon. Wenn überhaupt, so wär’s, könntest du wohl sagen, eher die andere Seite davon. Vielleicht ist dieser Teil meines Kopfes zu groß geworden. Aber du hast recht, was die Zoanthropen angeht. Deshalb leben sie in den Bergen. Wenn ein Mensch zum Tier wird, wird er ein sehr gefährliches Tier, und solche Tiere kann man in gemäßigteren Gegenden, wo Gehöfte stehn und viele Leute leben, nicht dulden. Also werden sie in diese Berge verjagt oder von alten Freunden hergebracht oder von jemand, der von ihnen dafür angeheuert worden ist, ehe sie die Gabe des menschlichen Denkens abgeworfen haben. Sie können natürlich noch ein bißchen denken, wie’s alle Tiere können. Genug, um in der Wildnis Nahrung zu finden, obschon viele in jedem Winter umkommen. Genug, um Steine zu werfen, wie Affen Nüsse werfen, und ihre Keulen zu gebrauchen und auf Gattenjagd zu gehen, denn wie gesagt gibt’s unter ihnen auch weibliche Geschöpfe. Ihre Söhne und Töchter leben allerdings selten lang, und das ist bestimmt auch gut so, denn sie kommen auf die Welt wie du und ich – mit der Bürde des Denkens.«
Diese Bürde lastete nun schwer auf mir, als ich zu Ende gesprochen hatte; so schwer, daß ich zum ersten Mal wirklich verstand, sie könnte für andere ein solcher Fluch sein wie mein Gedächtnis zuweilen für mich.
Ich war nie recht empfänglich für Schönheit gewesen, aber die Schönheit des Himmels und der Bergwelt war so beeindruckend, daß sie anscheinend auf mein ganzes Denken abfärbte und mir beinahe war, als erfaßte ich Unfaßbares. Als Meister Malrubius mir nach der ersten Aufführung von Dr. Talos’ Spiel erschienen war – was ich damals und jetzt noch immer nicht verstand, obgleich meine Gewißheit, daß die Begegnung stattgefunden hatte, ständig wuchs –, hatte er über den Kreislauf von Herrschaft gesprochen, obwohl ich damit nichts im Sinn gehabt hatte. Nun ging mir auf, daß der Wille selbst beherrscht wurde, wenn nicht von der Vernunft, so doch von Dingen, die darunter oder darüber lägen. Dennoch war es sehr schwierig zu sagen, auf welcher Seite der Vernunft diese Dinge denn lägen. Der Instinkt läge gewiß darunter; aber könnte er nicht auch darüber sein? Als der Alzabo sich auf die Zoanthropen
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