Das Schwert des Liktors
stürzte, befahl ihm sein Instinkt, seine Beute vor anderen zu bewahren; als Becan das gleiche tat, wollte er instinktiv wohl damit seine Frau und sein Kind bewahren. Beide handelten gleich und sogar im selben Körper. Legte der höhere oder niedrigere Instinkt hinter der Vernunft mit Hand an? Oder gibt es nur einen Instinkt, der hinter aller Vernunft steckt, so daß die Vernunft auf jeder Seite eine Hand im Spiel sieht?
Aber ist der Instinkt wirklich jene ›Bindung an die Person des Monarchen‹, die Meister Malrubius einst als die zugleich höchste und niedrigste Herrschaftsform bezeichnet hat? Denn sicherlich kann der Instinkt nicht aus nichts hervorgegangen sein – die Falken, die über uns geflogen sind, bauen ihre Nester sicherlich aufgrund eines Instinkts; dennoch muß es eine Zeit gegeben haben, als keine Nester gebaut worden sind, und der erste Falke, der ein Nest angelegt hat, kann diesen Instinkt zum Bauen nicht von den Eltern geerbt haben, da sie ihn nicht in sich getragen haben. Auch könnte sich ein solcher Instinkt nicht allmählich entwickelt haben – über tausend Falkengenerationen, die einen Zweig herbeigeholt haben, bevor irgendein Falke zwei holt; denn weder ein Zweig noch zwei sind für den nistenden Falken von irgendeinem Nutzen. Vielleicht ist das, was vor dem Instinkt gewesen ist, sowohl das höchste als auch niedrigste Prinzip der Herrschaft über den Willen gewesen. Vielleicht auch nicht. Die kreisenden Vögel zeichneten ihre Hieroglyphen in die Luft, aber sie blieben für mich unlesbar.
Als wir uns dem Sattel näherten, der den Berg mit jenem noch höheren verband, war mir, als schritten wir über das Angesicht der ganzen Urth, einer Bahn von Pol zu Äquator folgend; fürwahr hätte die Oberfläche, über die wir wie Ameisen krochen, der nach außen gekehrte Globus selbst sein können. Weit hinter uns und weit vor uns erstreckten sich düster die breiten, glänzenden Schneefelder. Darunter lagen Felshänge wie die Gestade der zugefrorenen Südsee. Darunter breiteten sich hohe Matten mit rauhem Gras aus, nun mit Wildblumen übersät; ich erinnerte mich gut an diejenigen, über die ich am Vortag gezogen war, und hinter dem blauen Dunst, der den Berg vor uns einhüllte, konnte ich ihr grünes Band wie eine Schärpe an der Brust ausmachen; dahinter glänzten die Kiefern so dunkel, daß sie schwarz wirkten.
Der Sattel, zu dem wir hinabstiegen, war ganz anders mit seinen Bergwäldern aus Laubbäumen, die ihre kränkelnden Wipfel der sterbenden Sonne dreihundert Ellen entgegenreckten. Zwischen ihnen standen ihre toten Brüder noch aufrecht, von den lebenden gestützt und im Gewirr der hängenden Lianen verstrickt. Bei dem Bach, an dem wir unser Nachtlager aufschlugen, hatte die Vegetation bereits größtenteils ihre kümmerliche Bergnatur verloren und die Üppigkeit des Tieflands angenommen. Und nun, da wir dem Sattel so nahe waren, daß er eine klare Sicht darauf hatte und seine Aufmerksamkeit nicht mehr vom notwendigen Gehen und Klettern mit Beschlag belegt wurde, deutete der Knabe und fragte, ob wir dort hinunter gingen.
»Morgen«, antwortete ich. »Es wird bald dunkel, und ich möchte diesen Dschungel gern an einem Tag durchqueren.«
Beim Wort Dschungel machte er große Augen. »Ist’s gefährlich?«
»Weiß ich nicht genau. Wie ich mir in Thrax hab’ sagen lassen, sind die Insekten bei weitem nicht so schlimm wie in tieferen Gegenden, und wahrscheinlich werden uns auch keine blutsaugenden Fledermäuse plagen – eine Freundin von mir wurde einmal von einer blutsaugenden Fledermaus gebissen, und das ist recht unangenehm. Aber die großen Affen leben dort, und es wird Raubkatzen und dergleichen geben.«
»Und Wölfe.«
»Und Wölfe natürlich. Aber Wölfe gibt’s auch in den Höhen. So hoch, wie euer Haus war, und höher.«
Kaum hatte ich sein Haus erwähnt, bedauerte ich es, denn etwas von seiner Lebensfreude, die in sein Gesicht zurückgekehrt war, wich mit diesem Wort wieder. Einen Augenblick lang schien er seinen Gedanken nachzuhängen. Dann sagte er: »Als diese Männer …«
»Zoanthropen.«
Er nickte. »Als diese Zoanthropen kamen und Mama wehtaten, kamst du uns da zur Hilfe, so schnell du konntest?«
»Ja«, versicherte ich, »so schnell ich konnte.« Das war zumindest in gewisser Hinsicht wahr, aber nichtsdestoweniger war es mir eine Qual, das zu sagen.
»Gut«, antwortete er. Ich hatte ihm eine Decke ausgebreitet, auf der er sich nun ausstreckte. Ich hüllte ihn
Weitere Kostenlose Bücher