Das Schwert des Liktors
damit ein. »Die Sterne sind heller geworden, nicht wahr? Sie werden heller, wenn die Sonne weggeht.«
Ich legte mich neben ihn und blickte empor. »Sie geht eigentlich nicht weg. Die Urth wendet nur ihr Gesicht ab, so daß wir diesen Eindruck haben. Wenn du mich nicht anschaust, gehe ich nicht weg, selbst wenn du mich nicht siehst.«
»Wenn die Sonne noch da ist, warum leuchten dann die Sterne stärker?«
Seine Stimme verriet mir, daß es ihm gefiel, wie gescheit er mir zu entgegnen vermochte, was auch mir gefiel. Mit einemmal verstand ich, warum Meister Palaemon so gern mit mir gesprochen hatte, als ich noch ein Kind war. Ich sagte: »Eine Kerzenflamme ist im hellen Sonnenschein fast unsichtbar, und die Sterne, die eigentlich auch Sonnen sind, verblassen scheinbar in derselben Weise. Gemälde aus dem Altertum, als unsere Sonne heller gewesen ist, zeigen offenbar, daß die Sterne bis zur Dämmerung überhaupt nicht zu sehen gewesen sind. Die alten Legenden – ich habe ein braunes Buch in meiner Gürteltasche, in dem viele davon erzählt werden – sind voller Zauberwesen, die in derselben Weise langsam verschwinden und wiedererscheinen. Bestimmt gründen diese Geschichten auf das Aussehen der Sterne von damals.«
Er deutete. »Das ist die Hydra.«
»Hast wohl recht«, meinte ich. »Kennst du auch noch andere?«
Er zeigte mir das Kreuz und den Großen Stier und ich ihm Amphisbaena und einige andere.
»Und dort ist der Wolf, neben dem Einhorn. Es gibt auch einen Kleinen Wolf, aber ich finde ihn nicht.«
Wir entdeckten ihn gemeinsam in Horizontnähe.
»Sie sind wie wir, nicht wahr? Der Große Wolf und der Kleine Wolf. Wir sind der große Severian und der kleine Severian.«
Ich pflichtete ihm bei, und er betrachtete noch eine Zeitlang die Sterne, während er an dem Stück Dörrfleisch kaute, das ich ihm gegeben hatte. Dann fragte er: »Wo ist das Buch mit den Geschichten?«
Ich zeigte es ihm.
»Wir hatten auch ein Buch, und manchmal las Mama Severa und mir daraus vor.«
»Sie war deine Schwester, nicht wahr?«
Er nickte. »Wir waren Zwillinge. Großer Severian, hast du auch eine Schwester?«
»Ich weiß nicht. Meine Verwandten sind alle tot. Schon seit meiner frühesten Kindheit. Was für eine Geschichte möchtest du denn hören?«
Er bat darum, das Buch sehen zu dürfen, und ich reichte es ihm. Nachdem er einige Seiten durchblättert hatte, gab er’s mir zurück. »Es ist nicht wie das unsere.«
»Das hab’ ich nicht angenommen.«
»Sieh, ob du eine Geschichte mit einem Knaben darin finden kannst, der einen großen Freund und einen Zwilling hat. Und Wölfe sollten vorkommen.«
Ich tat mein Bestes und las rasch, um vom schwindenden Licht nicht eingeholt zu werden.
Die Geschichte vom Knaben namens Frosch
ERSTER TEIL
Frühsommer und ihr Sohn
Auf einem Berg jenseits der Gestade der Urth lebte einmal eine liebliche Frau namens Frühsommer. Sie war die Königin dieses Landes, ihr König jedoch war ein starker, unversöhnlicher Mann, und weil sie auf ihn eifersüchtig war, war auch er eifersüchtig auf sie und tötete jeden Mann, den er ihren Liebhaber wähnte.
Eines Tages wandelte Frühsommer durch ihren Garten, als sie eine wunderschöne Blume gewahrte, wie sie ihresgleichen noch nie gesehen hatte. Die Blume war röter als jede Rose und duftete süß, aber ihr starker Stiel war ohne Dornen und glatt wie Elfenbein. Sie brach die Blume und trug sie an einen verschwiegenen Ort, wo sie sich niederließ, um sie zu betrachten, woraufhin aus der Blume anscheinend ein solcher Liebhaber wurde, wie sie ihn sich ersehnt hatte, kraftvoll und doch zart wie ein Kuß. Gewisse Säfte der Blume drangen in sie ein und zeugten ein Kind. Dem König jedoch sagte sie, das Kind sei das seine, und da sie gut bewacht war, glaubte er ihr.
Es wurde ein Knabe, nach dem Wunsch seiner Mutter Frühlingswind genannt. Bei seiner Geburt waren alle Sterndeuter versammelt, um sein Horoskop zu erstellen, und zwar nicht nur diejenigen, die auf dem Berg lebten, sondern viele der größten Magier auf Urth. Lang saßen sie über ihren Karten, und neun Mal berieten sie im einsamen Konklave; und schließlich verkündeten sie, daß Frühlingswind unwiderstehlich sei und keines seiner Kinder vor dem Erwachsensein stürbe. Diese Prophezeiungen gefielen dem König sehr.
Als Frühlingswind heranwuchs, sah seine Mutter mit heimlicher Wonne, daß er Feld und Flur, Blumen und Früchten am meisten zugetan war. Alles Grün gedieh unter
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