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Das Schwert des Liktors

Das Schwert des Liktors

Titel: Das Schwert des Liktors Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Morgen wieder etwas zu trinken. Er hatte gefragt, ob wir nun nicht wieder heimgingen; und obgleich ich ins Auge gefaßt hatte, zum ehemaligen Haus von Casdoe und Becan zurückzukehren, verneinte ich jetzt, wurde mir doch klar, daß es für ihn zu schrecklich wäre, das Dach, das Feld und den kleinen Garten noch einmal zu sehen, nur um es abermals verlassen zu müssen. In seinem Alter vermutete er vielleicht sogar, daß sein Vater, seine Mutter, seine Schwester und sein Großvater irgendwie noch drin wären.
    Dennoch konnten wir nicht viel weiter absteigen – wir waren bereits so tief, daß die Reise für mich gefährlich wurde. Der Arm des Archons von Thrax reichte hundert Meilen und mehr, und ich mußte obendrein damit rechnen, daß Agia seine Dimarchi auf meine Spur hetzte.
    Im Norden stand der höchste Gipfel, den ich bis jetzt gesehen hatte. Nicht nur sein Haupt, sondern auch seine Schultern waren in Schnee gehüllt, und der weiße Mantel langte ihm fast bis zur Hüfte. Ich konnte nicht sagen, und das konnte nun wohl keiner, was für ein stolzes Gesicht westwärts über so viele kleinere Gipfel blickte; aber gewiß hatte er in den frühesten Tagen der glorreichsten Zeiten der Menschheit geherrscht und über Energien geboten, die Granit zu gestalten vermochten wie das Messer eines Schnitzers Holz. Als ich ihn so betrachtete, war mir, als würden sogar die abgebrühten Dimarchi, die in der wilden Bergwelt zu Hause waren, in Ehrfurcht zu ihm aufschauen. Sodann machten wir uns auf den Weg zu ihm, oder vielmehr zum hohen Paß, der seine faltige Robe mit dem Berg verband, wo Becan einst sein Heim errichtet hatte. Zunächst war der Aufstieg nicht schwierig, und viel kräftezehrender als das wenige Klettern war das viele Gehen.
    Der Knabe Severian hielt oft meine Hand, auch wenn er sie nicht als Stütze brauchte. Ich bin kein guter Schätzer, wenn es um das Alter von Kindern geht, aber er ist vermutlich in dem Alter gewesen, wo er, wäre er einer unserer Lehrlinge gewesen, zum ersten Mal Meister Palaemons Schulzimmer betreten hätte – das heißt, er hat schon gut gehen können und die Sprache hinlänglich beherrscht, um einen zu verstehen und sich verständlich zu machen.
    Eine Wache oder länger sagte er weiter nichts mehr. Als wir dann einen freien, grasbedeckten, von Kiefern eingesäumten Hang erklommen, der jener Stelle glich, wo seine Mutter den Tod gefunden hatte, fragte er: »Severian, was waren das für Menschen?«
    Ich wußte, wen er meinte. »Das waren keine Menschen, obwohl sie einmal Menschen gewesen sind und noch wie Menschen aussehen. Es waren Zoanthropen, und dieses Wort bedeutet, daß es sich um Tiere in Menschengestalt handelt. Verstehst du das?«
    Der kleine Knabe nickte ernst und wollte dann wissen: »Warum tragen sie keine Kleidung?«
    »Weil sie keine Menschen mehr sind, wie ich schon sagte. Ein Hund wird als Hund geboren und ein Vogel als Vogel, aber ein Mensch zu werden, das ist eine Errungenschaft – du mußt darüber nachdenken. Nachgedacht hast du darüber seit wenigstens drei oder vier Jahren, kleiner Severian, auch wenn du vielleicht nie über das Nachdenken nachgedacht hast.«
    »Ein Hund sucht nur nach Fressen«, bemerkte der Knabe.
    »Richtig. Aber damit stellt sich die Frage, ob jemand zu solchem Denken gezwungen werden sollte, und ein paar Leute sind vor langer Zeit zum Schluß gekommen, das solle nicht geschehen. Man kann zuweilen einen Hund zwingen, sich wie ein Mensch zu verhalten – auf den Hinterbeinen zu gehen oder ein Halsband zu tragen und so weiter. Aber man sollte und könnte einen Menschen nicht zwingen, wie ein Mensch zu handeln. Wolltest du je in Schlaf fallen? Als du nicht schläfrig und nicht einmal müde warst?«
    Er nickte.
    »Du wolltest das deswegen, um die Bürde des Knabentums zumindest vorübergehend abzuwerfen. Manchmal trinke ich zu viel Wein, und zwar deshalb, weil ich einstweilen kein Mensch mehr sein möchte. Manchmal nehmen sich Leute aus eben diesem Grund das Leben. Wußtest du das?«
    »Oder sie machen Sachen, die ihnen wehtun könnten«, meinte er. Wie er das sagte, verriet mir, daß er gewisse Auseinandersetzungen erlauscht hatte; Becan war höchstwahrscheinlich ein solcher Mensch gewesen, denn sonst hätte er seiner Familie gewiß keine so entlegene und gefährliche Heimat zugemutet.
    »Ja«, sagte ich. »Ist wohl das gleiche. Und manchmal lernen gewisse Männer und sogar Frauen die Bürde des Denkens hassen, ohne daß das mit einer Todessehnsucht

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