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Das Schwert des Liktors

Das Schwert des Liktors

Titel: Das Schwert des Liktors Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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sollten. Andernfalls würde ich wieder die Leiter erklimmen und sehen, ob ich nicht durch die Falltür ausbrechen könnte. Ich setzte mich auf die Erde und wartete ab.
    Ich bin sicher, daß ich nicht eingeschlafen bin; aber ich habe mich meiner Gabe bedient, die Vergangenheit wiederauferstehen zu lassen, und so wenigstens im Geiste vermocht, diesen finsteren Ort zu verlassen. Eine Zeitlang beobachtete ich die Tiere in der Nekropolis jenseits der Zitadellenmauer, wie ich es als Knabe getan hatte. Ich sah den keilförmigen Zug der Wildgänse am Himmel und das Kommen und Gehen von Fuchs und Hase. Abermals huschten sie für mich durchs Gras und ließen schließlich ihre Fährten im Schnee zurück.
    Triskele lag scheinbar tot auf dem Abfall hinter dem Bärenturm; ich ging zu ihm, sah ihn zucken und den Kopf heben, um mir die Hand zu lecken. Ich saß bei Thecla in der engen Zelle, wo wir einander vorlasen und zwischendurch das Gelesene besprachen. »Die Welt läuft ab wie eine Uhr«, sagte sie. Der Increatus ist tot, und wer wollte ihn wiedererschaffen? Wer könnte es?«
    »Immerhin bleiben Uhren angeblich stehen, wenn ihr Besitzer stirbt.«
    »Das ist Aberglaube.« Sie nahm mir das Buch aus den Händen, damit sie sie in den ihren mit den langen, kalten Fingern halten konnte. »Wenn der Besitzer auf dem Sterbebett liegt, gießt niemand frisches Wasser nach. Er stirbt, und seine Pfleger sehen auf die Uhr, um die Zeit festzuhalten. Später bemerken sie, daß sie stehengeblieben ist und die gleiche Zeit anzeigt.«
    Ich erwiderte: »Du sagtest, sie höre vor dem Besitzer auf; wenn das Universum nun abläuft, so heißt das nicht, daß der Increatus tot ist – sondern daß er nie existiert hat.«
    »Aber er ist krank. Sieh dich um! Betrachte diesen Ort und die Türme über dir. Weißt du, Severian, daß du das nie getan hast?«
    »Er könnte dennoch jemand anweisen, den Mechanismus wieder aufzufüllen«, meinte ich und errötete, als ich erkannte, was ich gesagt hatte.
    Thecla lachte. »Das habe ich bei dir nicht mehr erlebt, seitdem ich mich zum ersten Mal für dich ausgezogen habe. Ich führte deine Hände an meinen Busen, und du wurdest rot wie eine Beere. Erinnerst du dich? Jemand anweisen, ihn wieder aufzufüllen? Wo ist der junge Atheist geblieben?«
    Ich legte meine Hand auf ihren samtenen Schenkel. »Er ist verwirrt wie damals ob der göttlichen Gesellschaft.«
    »Du glaubst also nicht an mich? Ich denke, du hast recht. Ich bin wohl das, wovon ihr jungen Folterer träumt – eine hübsche, noch unverstümmelte Gefangene, deren Gelüste gestillt sein wollen.«
    Um galant zu wirken, sagte ich: »Träume wie du übersteigen meine Macht.«
    »Bestimmt nicht, denn ich bin nun in deiner Macht.«
    Etwas war bei uns in der Zelle. Ich sah zur verriegelten Tür und zu Theclas Lampe mit dem silbernen Reflektor, dann in alle Ecken. Es wurde in der Zelle dunkler, und Thecla und sogar ich selbst schwanden mit dem Licht, nicht so aber das, was in meine Erinnerung an uns eingedrungen war.
    »Wer bist du?« fragte ich. »Und was willst du von uns?«
    »Du weißt genau, wer wir sind, und wir wissen, wer du bist.« Die Stimme klang kühl und war die gebieterischste, die ich je gehört hatte. Nicht einmal der Autarch hatte so gesprochen.
    »Wer bin ich denn?«
    »Severian von Nessus, der Liktor von Thrax.«
    »Ich bin Severian von Nessus«, erwiderte ich. »Aber nicht mehr der Liktor von Thrax.«
    »Möchtest gern, daß wir das glaubten.«
    Es herrschte wieder Schweigen, und nach einer Weile wurde mir klar, daß der Fragesteller mich nicht verhören, sondern zwingen wollte, ihm eine Erklärung anzubieten, falls ich meine Freiheit wiedererlangen möchte. Ich verspürte großes Verlangen, ihn zu packen – er konnte nicht weiter als ein paar Ellen entfernt sein –, wußte aber, daß er aller Wahrscheinlichkeit nach mit den stählernen Krallen, die mir die Wächter auf dem Weg gezeigt hatten, bewaffnet war. Ich wollte gleichfalls – wie schon seit einiger Zeit – die Klaue aus ihrem Ledersäckchen hervorholen – obschon es das Allertörichtste gewesen wäre. Ich erklärte: »Der Archon von Thrax wünschte, daß ich eine gewisse Dame tötete, die ich aber befreite, so daß ich aus der Stadt fliehen mußte.«
    »Indem du durch Zauberei durch die Posten schlüpftest.«
    Ich war schon immer der Meinung gewesen, alle selbsternannten Wundertäter seien Scharlatane; nun verriet mir etwas in der Stimme des Fragestellers, daß sie sich selbst

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