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Das Schwert des Liktors

Das Schwert des Liktors

Titel: Das Schwert des Liktors Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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hervor. Es waren keine Soldatenlanzen, Energiewaffen, deren Spitzen Lichtblitze abfeuern konnten, sondern schlichte Stangen mit eisernen Spitzen, ähnlich den Spießen der Leute von Saltus. Nichtsdestoweniger hätten sie aus nächster Nähe eine tödliche Wirkung gehabt, also setzte ich mich wieder nieder. Der Knabe sagte: »Ich glaube, sie beobachten uns von draußen durch die Ritzen zwischen den Balken.«
    »Ja, das weiß ich nun auch.«
    »Was können wir tun?« fragte er. Und dann, als ich keine Antwort gab: »Was sind das für Leute, Vater?«
    Das war das erste Mal, daß er mich so genannt hatte. Ich zog ihn dichter an mich, was offenbar das Gedankennetz, das Decuman um meinen Verstand spann, schwächte. Ich erwiderte: »Ich kann nur raten, aber ich schätze, eine Art Magierverein, der sich den angeblich geheimen Künsten verschrieben hat. Man sagt, diese Gesellschaft habe überall ihre Anhänger – was ich durchaus bezweifle – und sei sehr grausam. Hast du schon einmal von der Neuen Sonne gehört, kleiner Severian? So heißt man jenen Mann, der kommen wird, wie es prophezeit ist, um das Eis zurückzutreiben und die Welt ins rechte Lot zu setzen.«
    »Er wird Abaia töten«, versetzte er zu meiner Überraschung.
    »Ja, auch das soll er tun, und vieles andere mehr. Man sagt, er sei schon einmal gekommen – vor langer Zeit. Hast du das gewußt?«
    Er schüttelte den Kopf.
    »Damals oblag es ihm, zwischen der Menschheit und dem Increatus Frieden zu stiften, weswegen er Schlichter genannt wurde. Er ließ ein berühmtes Relikt zurück, ein Juwel namens Klaue.« Meine Hand glitt zu ihr, während ich sprach, und obgleich ich das Zugband des Säckchens nicht löste, fühlte ich sie durch das weiche Leder. Kaum hatte ich sie berührt, zerfiel die unsichtbare Lohe, die Decuman in meinem Geist entfacht hatte. Ich kann nun nicht sagen, warum ich so lange der Überzeugung gewesen bin, die Klaue müsse aus ihrem Versteck entnommen werden, um wirksam zu sein. Ich erfuhr in jener Nacht, daß dem nicht so war, und lachte.
    Nun unterbrach Decuman kurz sein Gemurmel und schlug die Augen auf. Der kleine Severian umklammerte mich fester. »Fürchtest du dich denn nicht mehr?«
    »Nein«, erklärte ich. »Konntest du sehen, daß ich mich fürchtete?«
    Er nickte ernst.
    »Was ich dir sagen wollte, ist, die Existenz dieses Relikts brachte einige Leute auf die Idee, der Schlichter hätte Klauen als Waffe benutzt. Ich habe zuweilen bezweifelt, daß es ihn gegeben hat; aber falls je ein solcher Mensch gelebt hat, so hat er seine Waffe hauptsächlich gegen sich selbst eingesetzt. Verstehst du, was ich meine?«
    Ich bezweifelte es zwar, aber er nickte.
    »Als wir auf dem Weg waren, fanden wir einen Fetisch gegen das Kommen der Neuen Sonne. Die dreifarbigen Männer – das sind wohl diejenigen, die diese Prüfung bestanden haben – verwenden stählerne Klauen. Ich glaube, sie wollen das Kommen der Neuen Sonne aufhalten, um ihren Platz einzunehmen und ihre Macht an sich zu reißen. Falls …«
    Draußen ertönte ein Schrei.
     

 
Am Saum des Berges
     
    Mein Lachen hatte Decumans Konzentration unterbrochen – wenn auch nur für einen Augenblick. Der Schrei von draußen tat das nicht. Sein Netz, das in Stücke zerfallen war, als ich die Klaue umfaßte, legte sich wieder um mich, langsamer zwar, aber fester.
    Man ist immer versucht, solche Gefühle als unbeschreiblich hinzustellen, obwohl sie’s selten sind. Mir war, als hinge ich nackt zwischen zwei fühlenden Sonnen, und irgendwie wurde ich gewahr, daß diese Sonnen die zwei Gehirnhälften von Decuman waren. Ich war in Licht gebadet, aber es war die Lohe eines Herdes, verzehrend und irgendwie lähmend. In diesem Licht schien nichts lohnenswert; und ich selbst unendlich klein und gering.
    So blieb in gewissem Sinne auch meine Konzentration ungebrochen. Dennoch ahnte ich, daß der Schrei eine günstige Gelegenheit für mich böte. Viel zu spät, nämlich nach gut einem Dutzend Atemzügen, sprang ich auf die Beine.
    Es kam etwas durch die Tür. Mein erster Gedanke ist, so absurd das auch klingen mag, Schlamm gewesen; daß ein Beben die Urth erschüttert hätte und den Saal in einem stinkenden Moor ertränke. Es floß blind und weich um die Türpfosten, währenddessen eine zweite Fackel erlosch. Bald würde es Decuman erfassen, und ich rief ihm eine Warnung zu.
    Ich bin mir nicht sicher, ob wegen der Berührung mit der Kreatur oder wegen meiner Stimme, jedenfalls fuhr er zurück. Wieder

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