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Das Schwert des Liktors

Das Schwert des Liktors

Titel: Das Schwert des Liktors Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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Nacht.
    Mehrmals schlief ich, dort unter den Sternen stehend, fast ein; und an der Grenze zum Schlaf sorgte ich mich um den Knaben und dachte, daß ich ihn bestimmt geweckt hatte durch mein Aufstehen, und überlegte, wo ich Nahrung für ihn fände, wenn die Sonne wieder sichtbar wäre. Nach solchen Gedanken befiel mich die Erinnerung an seinen Tod, wie die Nacht sich über die Berge gesenkt hatte – als Woge der Schwärze und Verzweiflung. Ich wußte nun, was Dorcas gefühlt hatte, als Jolenta starb. Zwischen dem Knaben und mir hatte es nichts Geschlechtliches gegeben wie vermutlich einst zwischen Dorcas und Jolenta; indes war’s nicht ihre körperliche Liebe, die meine Eifersucht erregt hatte. Für den Knaben hatte ich genauso tief empfunden wie Dorcas für Jolenta (und gewiß tiefer als Jolenta für Dorcas). Wenn Dorcas davon erführe, wäre sie ebenso eifersüchtig, wie ich’s zuweilen gewesen bin, dachte ich, hätte sie mich nur so geliebt, wie ich sie geliebt hatte.
    Als ich schließlich keine Tritte mehr vernahm, versteckte ich mich, so gut ich konnte, und legte mich wieder zum Schlafen nieder. Ich ahnte, daß ich aus diesem Schlaf nicht wieder oder mit einem Messer an der Kehle erwachen würde, aber nichts dergleichen widerfuhr mir. Von Wasser träumend, schlief ich bis in den Morgen hinein und erwachte allein, frierend und mit steifen Gliedern.
    Ich machte mir nun nichts mehr aus den geheimnisvollen Tritten, den Wächtern, dem Ring oder sonst irgend etwas in dieser verwunschenen Stadt. Mein einziger Wunsch war, sie zu verlassen, und zwar so schnell wie möglich; und ich war froh – obgleich ich nicht erklären könnte, warum –, festzustellen, daß ich nicht wieder am Kuppelbau vorbei mußte, um zur nordwestlichen Bergseite zu gelangen.
    Oft in meinem Leben habe ich geglaubt, den Verstand zu verlieren, habe ich doch große Abenteuer zu bestehen gehabt, wobei die größten Abenteuer solche sind, die am heftigsten aufs Gemüt schlagen. So war’s auch jetzt. Ein Mann, größer als ich und viel breitschultriger, trat unter den Füßen eines Kataphrakts hervor, und mir war, als sei eines der großen Sternbilder vom Nachthimmel auf die Urth gefallen und habe sich mit Menschengestalt angetan. Denn der Mann hatte zwei Häupter gleich einem Ungetüm aus einer vergessenen Sage im Buch Die Wunder von Himmel und Urth.
    Unwillkürlich legte ich die Hand ans Heft des Schwertes an meiner Schulter. Einer der Köpfe lachte; es war wohl das einzige Lachen, das ich angesichts dieses großen Schwertes je hören sollte.
    »Warum fürchtest du dich?« rief er mir entgegen. »Ich sehe, du bist so gut gerüstet wie ich. Wie heißt dein Freund?«
    Trotz aller Verblüffung bewunderte ich seine Kühnheit. »Das ist Terminus Est «, antwortete ich und drehte das Schwert so, damit er die Inschrift im Stahl sehen konnte.
    »Der Scheidewege Famos, wirklich famos, insbesondere hier und jetzt, denn hier ist wahrlich der Scheideweg zwischen dem Alten und Neuen, wie es nicht seinesgleichen gibt. Mein Freund heißt Piaton, was, fürchte ich, nicht viel bedeutet. Er ist ein minderer Diener, verglichen mit dem deinen, wenn auch vielleicht ein besseres Roß.«
    Als er seinen Namen hörte, riß der andere Kopf die bis jetzt halb geschlossenen Augen auf und rollte sie. Sein Mund bewegte sich, als wollte er etwas sagen, aber kein Laut trat über seine Lippen. Er machte auf mich den Eindruck eines Schwachsinnigen.
    »Aber du kannst dein Schwert wegstecken. Wie du siehst, bin ich unbewaffnet und obendrein schon geköpft und will dir jedenfalls nichts Böses.«
    Er hob, während er dies sagte, die Hände und drehte sich hin und her, damit ich sähe, daß er völlig nackt war, was mir natürlich längst klar war.
    Ich fragte: »Bist du vielleicht der Sohn des Toten, den ich in dem Kuppelbau dort hinten gesehen hab’?«
    Ich hatte wärenddessen Terminus Est wieder in die Scheide gesteckt. Nun trat er einen Schritt näher und sagte: »Keineswegs. Ich bin der Tote selbst.«
    Dorcas tauchte in meinen Gedanken auf wie durch die braunen Wasser des Vogelsees, und ich fühlte wieder ihre tote Hand die meine ergreifen. Ehe ich es mich versah, hatte ich gestammelt: »Hab’ ich dich zum Leben erweckt?«
    »Sagen wir lieber, dein Kommen hat mich geweckt. Du hast mich für tot gehalten, obwohl ich nur getrocknet war.
    Ich habe getrunken, und wie du siehst, lebe ich wieder. Trinken heißt Leben, Wasser heißt Wiedergeburt.«
    »Wenn das stimmt, ist’s ein

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