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Das Schwert des Liktors

Das Schwert des Liktors

Titel: Das Schwert des Liktors Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gene Wolfe
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konnte ich es sehen, sein Gesicht mit der Mitra aus Eis und darunter die linke Schulter, worauf ein Chiliarch seine tausend Kavalleristen hätte aufmarschieren lassen können.
    Vor mir deutete der Knabe und rief etwas, das ich nicht verstehen konnte; deutete hinab zu den Gebäuden und den aufrechten Gestalten ihrer metallenen Wächter. Erst beim zweiten Hinsehen wurde mir klar, was er meinte – ihre Gesichter waren uns zu drei Vierteln zugewandt, wie sie uns auch an diesem Morgen zu drei Vierteln zugewandt gewesen waren. Die Häupter hatten sich bewegt! Zum ersten Mal folgte ich der Richtung ihrer Blicke – und stellte fest, daß sie zur Sonne sahen.
    Nickend rief ich dem Knaben zu: »Ich seh’s!«
    Wir befanden uns nun auf dem Handgelenk, und vor uns lag, breiter und noch sicherer als der Arm, der gewaltige Teller seiner ausgebreiteten Hand. Während ich ihn überquerte, lief mir der Knabe voraus. Der Ring steckte am zweiten Finger, einem Finger, der wuchtiger war als ein Balken vom größten Baum. Der kleine Severian lief auf ihm hinaus; es fiel ihm leicht, auf dem Kamm das Gleichgewicht zu halten. Schon streckte er die Hände nach dem Ring aus.
    Ein Lichtblitz zuckte auf – hell, aber nicht grell in der strahlenden Nachmittagssonne; weil violett, wirkte er schier dunkel.
    Er verkohlte. Einen Augenblick lang lebte er wohl noch; er warf den Kopf zurück und riß die Arme auseinander. Die entstehende Rauchwolke hatte der Wind rasch fortgetragen. Er fiel zu Boden, zog in der Art toter Insekten krampfhaft die Beine an den Bauch und purzelte dann in den Spalt zwischen Ring- und Zeigefinger.
    Ich, der ich so viele Brandmarkungen und Scheiterhaufen erlebt und sogar selbst das Eisen gebraucht hatte (unter den Milliarden Erinnerungen in meinem Gedächtnis ist lebhaft wie am ersten Tag das brutzelnde Backenfleisch Morwennas), brachte es kaum über mich, hinzugehen und nach ihm zu schauen.
    Es lagen dort Gebeine in der engen Nische zwischen den Fingern, aber es waren alte Knochen, die unter meinen Füßen zerbröckelten, als ich hinabsprang, wie die Knochen, womit die Wege in unserer Nekropolis bestreut waren, und ich machte mir erst gar nicht die Mühe, sie genauer anzusehn. Ich zog die Klaue hervor. Nachdem ich mich dafür verwunschen hatte, sie nicht verwendet zu haben, als bei Vodalus’ Bankett Theclas Leib aufgetragen wurde, mahnte mich Jonas, kein Tor zu sein, und versicherte, die Klaue, wie mächtig sie auch immer wäre, könnte keinesfalls wieder Leben in dieses Bratfleisch hauchen.
    Und ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, daß ich, hätte sie nun gewirkt, trotz aller Freude den Knaben an einen sicheren Ort gebracht und mir mit Terminus Est die Kehle aufgeschlitzt hätte. Denn hätte die Klaue das vermocht, hätte sie auch Thecla zurückgeholt, wäre sie nur gebraucht worden; und Thecla war ein Teil von mir, nun unwiederbringlich tot.
    Einen Moment lang hatte ich den Eindruck, einen Glanz, einen hellen Schein oder Nimbus zu gewahren; dann zerfiel der Knabenleichnam zu schwarzer Asche, über die aufwirbelnd der Wind strich.
    Ich richtete mich auf, steckte die Klaue zurück und machte mich auf den Rückweg, wobei ich geistesabwesend gewahrte, was für Schwierigkeiten ich hätte, aus diesem engen Spalt wieder zur Handfläche zu gelangen. (Schließlich mußte ich Terminus Est mit der Spitze nach unten gegen die Wand lehnen und mit dem Fuß auf die Parierstange steigen, um hinaufzukommen, dann kopfüber zurückkriechen, bis ich seinen Knauf greifen und es hinter mir hochziehen konnte.) War meine Erinnerung an das Vorgefallene auch ungetrübt, so war ich doch wie benebelt – geistig benebelt, so daß der Knabe zunächst mit jenem anderen Knaben, Jader, verschmolz, der mit seiner todkranken Schwester im Kliff von Thrax lebte. Diesen, der mir nun so ans Herz gewachsen war, vermochte ich nicht zu retten; jenen, der mir wenig bedeutete, hatte ich geheilt. Irgendwie kam es mir so vor, als wären sie ein und derselbe Knabe. Gewiß handelte es sich hierbei lediglich um einen Schutzmechanismus meines Verstandes, hinter dem er vor dem Sturm des Wahnsinns Zuflucht suchte; indes hatte ich das Gefühl, solange Jader lebte, könnte der Knabe, den seine Mutter Severian genannt hatte, nicht wirklich vergehen.
    Ich hatte mir vorgenommen, auf der Hand innezuhalten und einen Blick zurück zu tun; ich brachte es nicht über mich – in Wahrheit befürchtete ich, ich würde an die Kante treten und mich in die Tiefe stürzen. Ich

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