Das Schwert des Sehers
ist.«
»Magie dieser Art hat immer ihren Preis«, erklärte Valdar. »Und der Preis wird in Leben und mit Seelen bezahlt, denn das ist die einzige Währung, die in den jenseitigen Sphären etwas zählt. Wahre Magie tötet den Zauberer, und je mehr er sich in das Leben und das Schicksal anderer Menschen verstrickt, umso rascher tötet sie ihn.«
»Man hört auch heute noch von Zauberern«, sagte Lacannachdenklich. »Sogar in der Hauptstadt. Willst du nicht deswegen dorthin? Manch einer von denen scheint sich wenig um solche Dinge zu scheren.«
»Denk darüber nach, Junge«, erwiderte Valdar. Leben oder Seelen. Der Preis wird immer gezahlt. Aber es gibt Wege, wie man andere dafür zahlen lassen kann.
Wenn du also je einen Zauberer siehst, der große Magie scheinbar mühelos zuwege bringt, dann traue ihm nicht. Ein solcher Mann muss schreckliche Dinge getan haben, selbst wenn er es geschafft hat, sie im Verborgenen zu halten. Was auch der Grund ist, warum die Kirche viele Formen der Magie mit Misstrauen betrachtet.
Ein Zauberer dieser Art zahlt den Preis mit dem Blut und den Seelen seiner unschuldigen Opfer und hat den Pfad der Menschlichkeit verlassen. Das ist ein Weg, den ich niemals beschreiten möchte.«
TAGE SPÄTER – HOROME, UNTERSTADT
A ls Dauras wieder erwachte, merkte er, dass er Hunger hatte. Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war. Es war still in dem kleinen Zimmer, und er war allein. Er stand auf.
Er war unsicher auf den Beinen und sank gleich wieder auf das Bett zurück. Er biss die Zähne zusammen und stemmte sich hoch. Sich an der Wand entlangtastend, taumelte er vorwärts. Mit dem bloßen Fuß stieß er gegen ein Hindernis und öffnete die Augen. Er sah dunkle und helle Flecken überall um ihn herum. Manche Flecken hatten scharfe Kanten, manche schienen in der Luft zu tanzen. Es fiel ihm schwer, sie festzuhalten oder zu einem Ganzen zusammenzufügen.
Dauras beugte sich vor und tastete über das Möbelstück, an das er gestoßen war. Die Umrisse fühlten sich vertraut an. Er strich mit den Fingern über die Oberfläche und folgte den Kanten, die nach unten zu einem Bein wurden, und dann …
»Bei allen Göttern des Schwertes!«
Dauras schnappte nach Luft. Von einem Augenblick zum anderen nahmen die Linien eine Form an. Was bis dahin nur eine wirre Mischung von trüben Farbflächen und nichtssagenden Konturen gewesen war, wurde zu einem Hocker.
Er sah , was er fühlte!
Allerdings erkannte er es erst, als er es bereits gefühlt hatte. Der Rest des Zimmers blieb eine Wirrnis, die er mit den Händen noch gestalten musste.
Dauras ging weiter. Er erkundete den Raum mit den Fingern. Die Formen schälten sich aus dem Chaos, eine nach der anderen. Dauras ertastete ein zweites Bett, einen Tisch, ein Regal mit Schalen … Der Ofen war warm, aber nicht heiß,mithilfe eines Tuchs erschloss er sich dessen Erscheinungsbild in allen Einzelheiten.
Er begriff, was er fühlte, und sah es im selben Augenblick. Das Bild blieb bestehen, solange er die Augen darauf richtete, doch er musste die Form eines Gegenstandes von jeder Seite aus neu entdecken. Oft rätselte er dann eine Weile, bevor die Linien zueinanderfanden, und manches versank aus einer anderen Perspektive ein weiteres Mal in dem Durcheinander seines neuen Sehvermögens und musste erneut erfühlt werden.
Es kam vor, dass er ein Ding auch beim Tasten nicht erkannte. Dann blieb sein Bild davon gleichfalls unbestimmt. Die Augen allein konnten die Formen einfach nicht zusammenfügen. Aber zum ersten Mal hatte er das Gefühl, dass er lernen konnte.
Er hörte ein Geräusch von jenem Teil der Wand, den er als Tür ertastet hatte.
»Meris?«, fragte er.
»Du bist aufgestanden!«
Es war Meris’ Stimme. Dauras sah nur eine Wolke, deren Formen sich ineinanderdrehten. Eine farbige Fläche mit wabernden Schatten an der Seite.
Er trat auf sie zu und berührte sie. Die Schatten wurden zu Armen. Die Fläche zu einem Leib. Die hellste Fläche zu einem Gesicht, in dem mit einem Mal eine Nase sichtbar wurde. Dauras konzentrierte sich, und sein Blick erfasste noch feinere Details. Er fuhr ihre Augen nach und erkannte in der Mitte eine Farbe.
Er konnte diese Farbe nicht benennen, dennoch wusste er, dass es eine Farbe war – so scharf stach sie von den Wimpern und der Haut und dem Weiß des Auges ab.
»Ich kann sehen!«, verkündete er. »Ich kann wirklich sehen.«
»Du kannst sehen«, sagte Meris. »Dann hoffe ich, dass du bald auch wieder
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