Das Schwert des Sehers
schwer werden, dem Kanzler deswegen einen Vorwurf zu machen. Die meisten Leute würden es für eine Wohltat halten, dass er einen Blinden wieder sehend gemacht hat.«
»Er wusste genau, was er mir antut«, widersprach Dauras. »Er wusste, dass er mich damit zum Krüppel machen kann.«
»Selbst wenn es so ist«, sagte Meris, »wie willst du ihm das beweisen? Ich hätte nicht gedacht, dass sehen ein solches Problem sein kann.«
»Bring mich in den Palast«, forderte Dauras. »Probieren wir es einfach aus, ob die Prinzessin mir glaubt.«
»Die Kaiserin«, wies Meris ihn beiläufig zurecht. »Und dein Wunsch ist nicht so leicht zu erfüllen. Der Kanzler hatte zwanzig Tage Zeit, um seine Stellung zu festigen. Er hat die Garde auf seiner Seite und die alten Freunde des Kaisers, under hat seine eigenen Handlanger. Wer auch immer von denen dich auf der Insel sieht, wird dich gleich aus dem Weg räumen. Du würdest nicht einmal lebend über die Brücken kommen.«
»Wenn sie es auf mich abgesehen haben«, sagte Dauras, »dann musst du in den Palast gehen. Sobald die Kaiserin von mir erfährt, kann sie mich holen lassen.«
»Ich werde nichts dergleichen tun«, erwiderte Meris. »Schau dich an. Du bist keine Hilfe mehr für irgendjemanden – du brauchst selbst Hilfe! Sollte die Kaiserin sich für dich einsetzen und einen offenen Konflikt mit dem Kanzler riskieren, bräuchte sie einen anderen Rückhalt bei Hofe. Und, wie gesagt, den wird sie schwerlich finden.
Ich werde also nicht zu ihr gehen und ihr ein Problem aufladen, bei dem sie nichts gewinnen kann und sich nur nutzlos in Gefahr bringt.«
»Aber der Kanzler wird es nicht dabei bewenden lassen«, wandte Dauras ein. »Er hat mich nur aus dem Weg geräumt, um an sie heranzukommen.«
»Ja. Und das hat er geschafft. Wir können nichts daran ändern, indem du einen Kampf fortsetzt, den du bereits verloren hast.«
Dauras hatte keinen Appetit mehr. Er schob das Brot zu Meris zurück. »Wir dürfen nicht zulassen, dass er damit durchkommt.«
»Nein«, sagte Meris. »Was glaubst du, warum ich dich durchgefüttert habe? Ich will, dass du wieder zu Kräften kommst und nützlich bist. Dann suchen wir nach einem Weg, wie wir dem fetten Arnulf so in den Hintern treten können, dass er von seinem hohen Posten stürzt.«
G ut Galdingen bei Meerbergen, am selben Tage
Valdar lebte in einer Wohnung, die er sich über dem Lagerhaus eingerichtet hatte. Lacan stieg die Außentreppe hinauf, durch den Regen, der vom Wind unter das Vordach gefegt wurde. Er öffnete die Tür und schüttelte seinen nassen Umhang aus.
In der kleinen Diele lagen so viele Schuhe und Kleidungsstücke herum, als würde eine ganze Familie hier hausen. Es sah aus, als lägen die Sachen schon jahrelang da.
Lacan vertrieb eine Spinne von einem Haken und hängte seinen Umhang auf. Er zog die Stiefel aus und machte die Tür auf, die in den Wohnbereich führte.
»Valdar?«
Die Wohnung des alten Gelehrten war genauso unordentlich wie der Vorraum, vollgestellt mit allem, was sonst nirgends Platz gefunden hätte: Tische, Sessel und Bänke, die teilweise aufeinander gestapelt waren, präparierte Tiere, Truhen und Werkzeuge. Regale standen im Raum voller Bücher und Schriftrollen. Geschirr stapelte sich auf einer Ablage, ein Badezuber stand auf einem Sofa. Auf dem leeren Gestell eines Himmelbettes blubberten Flüssigkeiten in Glasbehältern über kleinen Kohlepfannen.
Ein eigentümlicher Geruch erfüllte die Luft, eine Mischung aus Rauch und Kräutern und Essig, der aber nicht unangenehm war und an eine Küche denken ließ. Es war warm hier oben, die Wände aus Holz wirkten behaglicher als die steinernen Mauern des Haupthauses. Der Regen prasselte auf das Holzdach, und durch das einen Spaltbreit offen stehende Fenster aus trübem Glas konnte Lacan hinaus auf den Hofplatz blicken.
»Valdar?«, rief er noch einmal.
Er fand den Alten an einem Tisch: Der rundliche, weißhaarige Gelehrte beugte sich über eine riesige Lupe und betrachtete gefangene Insekten, die in dieser Größe beängstigend wirkten.
Lacan legte ihm die Hand auf die Schulter. »Valdar«, sagte er. »Wir vermissen dich drüben.«
»Hm.« Der Alte winkte ab, ohne sich nach ihm umzuwenden. Er notierte beiläufig etwas auf einem Bogen Papier, der neben ihm lag.
Lacan ging ein paar Schritte zur Seite und schob müßig einige Schachteln hin und her, die in einem türlosen Schrank lagen. »Wir haben kaum miteinander geredet, seit ich zurückgekehrt
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