Das Schwert des Sehers
einen abfälligen Laut von sich. »Und seine Augen und Ohren dazu, nehme ich an. Der kaiserliche Botendienst denkt gern, dass er für das Reich steht. Aber eines Tages werdet ihr erkennen, dass man mit Spitzeln und Intrigen allein das Reich nicht zusammenhalten kann.«
»Ihr glaubt also«, stellte Meris in herablassendem Ton fest, »das Schicksal des Reiches sollte auf dem Rücken der kaiserlichen Legion ruhen – der letzten, die dem Reich geblieben ist?«
»Es gibt noch die zehnte Legion, die Südlande.«
»… die genug zu tun hat mit den Kolonien. Nein, spart Euch Eure stolzen Worte. Die Schultern der Legionen sind schmal geworden. Der geheime Botendienst hingegen trägt die Dolche des Kaisers bis in den Städtebund und bis nach Barrat, wenn es sein muss. Und denkt Ihr, ich könnte nicht kämpfen, nur weil ich kein langes Schwert und keine Rüstung trage?«
»Darüber weiß ich genug«, sagte der Ritter. »Die kaiserlichen Kuriere lassen sich von den fremdländischen Teufeln in ihren heidnischen Schwertkünsten ausbilden und halten sich viel darauf zugute. Genau wie der Schurke, der unsere Prinzessin entführt hat. Vielleicht wird diese Reise am Ende zeigen, dass die bponursgefällige Ritterschaft doch den stärkeren Arm hat.«
»Vielleicht.« Meris wandte sich dem Ritter zu und schenkte ihm ein liebenswürdiges Lächeln. »Vielleicht werde ich Euch auf dieser Reise noch beim Wort nehmen und Euren Kampfgeist nutzen können, Herr Ritter.«
16.10.962 – HOROME
D ie Steine waren schwarz und feucht. Wasser sammelte sich am Boden und verschwand in unsichtbaren Ritzen, Pilze wucherten dort hervor. Das einzige Licht in dem Tunnel – einem Quergang zur Kanalisation der Kaiserstadt – kam von der Laterne, die Runnik in der Hand hielt.
Runnik, der kaiserliche Hofmagier zu Horome.
Das war einmal, dachte er.
Diese halb vergessenen Gänge unter dem Palast waren über Jahre hinweg sein Zuhause gewesen. Er hatte sie erweitern lassen, verborgene Zugänge geschaffen, wo er welche brauchte, Zellen und Laboratorien eingerichtet, tief unten, wo niemand Zeuge seiner Taten werden konnte. Außer dem Kaiser, seinem Seelenverwandten, den er immer wieder gern in seine Unterwelt eingeladen hatte.
Der Kaiser hatte ihm alles gegeben, was er brauchte, und er hatte dafür gesorgt, dass geheim blieb, was geheim bleiben sollte. Es war eine großartige Zeit gewesen.
Und doch, damit musste er sich abfinden: Es war vorbei.
Als Aredrel sich von ihm abwandte, hatte Runnik das zunächst für eine bloße Verstimmung gehalten. Er hatte dem Kaiser Zeit gelassen, denn Aredrels Launen waren gefürchtet.
Dann hatte Runnik um die Gunst seines Herrn gekämpft, mit der gebotenen Zurückhaltung, denn er wollte nicht Gefahr laufen, dass die ungewohnte Distanz in offene Feindseligkeit umschlug. Aber was er auch versucht hatte, jetzt war seine letzte Hoffnung gestorben.
Ohne den Schutz seines Gönners war es nur eine Frage der Zeit, bis seine Feinde bei Hofe die geheimen Zugänge aufbrechen ließen. Runnik musste den Palast verlassen. Und damit verlor er fast alles. Doch was soll’s, dachte er. Alles Gute hat einmal ein Ende.
Er pfiff sogar ein leises Lied auf seinem Weg. Die Töne hallten hohl von den Wänden wider und gingen unter im Glucksen und Rauschen der fernen Abwasserrinnen.
Vor einer Tür, die vom Moder so weich geworden war wie ein Schwamm, hielt er inne. Er zog sie auf und leuchtete in die Kammer dahinter. Verschimmeltes Stroh bedeckte den Boden.
»Strohköpfchen«, rief er in den Raum. »Wir müssen weiterziehen und uns einen neuen Gönner suchen.«
Aus dem Stroh erhob sich eine Gestalt, eine Frau mit blonden Haaren. Sie trug einen braunen Kittel mit Stockflecken. Ihre Haut war blass, ihr Gesicht sah jung und glatt aus, wirkte aber aufgedunsen.
»Herr?« Sie sprach undeutlich und spie ein paar Strohhalme aus.
»Pack mir eine Reisetasche, Mädchen«, befahl Runnik. »Wir treffen uns am Tunnel nach Westen.«
Er wandte sich ab und ging weiter. Die Magd sollte seine Kleidung packen – Runnik bevorzugte dunkle Roben, die sich kaum unterschieden. Um die wertvollen Sachen hingegen musste er sich selbst kümmern, um die Paraphernalien seiner Magie.
Er streifte durch die Laboratorien und Lagerräume und sammelte die kostbarsten Dinge zusammen, die in seinen größten Schrankkoffer aus Holz und Leder hineinpassten. Unterwegs nahm er sich die Zeit, den letzten noch lebenden Versuchsobjekten seiner zahlreichen Experimente
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