Das Schwert in Der Stille
sei denn, der Clan hätte es befohlen«, entgegnete Lord Shigeru ruhig.
»Höchstwahrscheinlich war es Iida«, sagte Ichiro. Er sah das Messer in meiner Hand und nahm es mir ab. Er schlitzte das schwarze Gewand des Einbrechers vom Hals bis zur Taille auf, so dass der Rücken zu sehen war.
Über das Schulterblatt zog sich eine schreckliche Narbe von einer alten Schwertwunde und das Rückgrat zeigte eine komplizierte Tätowierung. Sie zuckte im Lampenlicht wie eine Schlange.
»Er ist ein gedungener Attentäter vom Stamm«, sagte Lord Shigeru. »Jeder könnte ihn bezahlt haben.«
»Dann muss es Iida gewesen sein! Er muss wissen, dass Sie den Jungen haben. Werden Sie ihn jetzt wegschicken?«
»Wenn der Junge nicht gewesen wäre, hätte der Attentäter Erfolg gehabt«, antwortete der Lord. »Er war es, der mich rechtzeitig geweckt hat… Er hat mit mir gesprochen!«, rief er, als ihm das plötzlich bewusst wurde. »Er hat mir ins Ohr geflüstert und mich geweckt!«
Das beeindruckte Ichiro nicht besonders. »Ist Ihnen nicht der Gedanke gekommen, dass vielleicht er das Ziel war, nicht Sie?«
»Lord Otori«, meine Stimme war belegt und rau, weil ich sie wochenlang nicht gebraucht hatte, »ich habe Ihnen nichts als Gefahr gebracht. Lassen Sie mich gehen, schicken Sie mich weg.« Aber schon während ich es sagte, wusste ich, dass er es nicht tun würde. Jetzt hatte ich sein Leben gerettet wie er zuvor das meine, und das Band zwischen uns war stärker denn je.
Ichiro nickte zustimmend, aber Chiyo meldete sich. »Vergeben Sie mir, Lord Shigeru. Ich weiß, dass es mich nichts angeht und dass ich nur eine dumme alte Frau bin. Aber es stimmt nicht, dass Takeo Ihnen nichts als Gefahr gebracht hat. Bevor Sie mit ihm zurückgekommen sind, waren Sie halb von Sinnen vor Trauer. Jetzt haben Sie sich erholt. Er hat Ihnen auch Freude und Hoffnung gebracht, nicht nur Gefahr. Und wer wagt es, das eine zu genießen und dem anderen zu entfliehen?«
»Wie sollte gerade ich das nicht wissen?«, entgegnete Lord Shigeru. »Es gibt ein Schicksal, das unsere Leben verbindet. Dagegen kann ich nichts tun, Ichiro.«
»Vielleicht ist sein Verstand mit der Zunge zurückgekommen«, sagte Ichiro bissig.
Der Attentäter starb, ohne das Bewusstsein wiederzuerlangen. Es stellte sich heraus, dass er eine Giftkapsel im Mund gehabt hatte, die er bei seinem Sturz zerbiss. Niemand kannte seine Identität, obwohl es viele Gerüchte gab. Die toten Wachtposten wurden in einer feierlichen Zeremonie begraben und betrauert, und die Hunde wurden zumindest von mir betrauert. Ich fragte mich, welchen Pakt sie geschlossen, welche Treue sie geschworen hatten, dass sie so in die Fehden der Menschen verwickelt wurden und mit ihrem Leben zahlen mussten. Ich sprach diese Gedanken nicht aus: Es gab noch viel mehr Hunde. Neue wurden beschafft und so dressiert, dass sie nur von einem bestimmten Mann Futter annahmen und nicht vergiftet werden konnten. Auch an Männern herrschte kein Mangel. Lord Shigeru lebte einfach, er hatte nur wenige bewaffnete Gefolgsleute um sich, aber es hatte den Anschein, als würden ihm viele vom Clan der Otori gern dienen, genug, um eine Armee zu bilden, falls er das wünschte.
Der Angriff schien ihn nicht im Geringsten erschreckt oder bedrückt zu haben. Er wurde davon höchstens aufgemuntert; dass er dem Tod entgangen war, verstärkte sein Entzücken an den Freuden des Lebens. Er schwebte, wie nach dem Treffen mit Lady Maruyama. Er freute sich über meine wiedergefundene Sprache und über die Schärfe meines Gehörs.
Vielleicht hatte Ichiro Recht, oder vielleicht besänftigte sich seine Einstellung mir gegenüber. Was immer der Grund sein mochte, seit der Nacht des Attentatsversuchs fiel mir das Lernen leichter. Langsam entschlüsselten die Schriftzeichen ihre Bedeutung und behielten ihren Platz in meinem Gehirn. Ich fing sogar an, sie zu mögen, die verschiedenen Formen, die wie Wasser flossen oder fest und kauernd dasaßen wie schwarze Krähen im Winter. Ich hätte es Ichiro nicht eingestanden, aber es machte mir großes Vergnügen, sie zu zeichnen.
Ichiro war ein anerkannter Lehrmeister, bekannt für die Schönheit seiner Schrift und den Umfang seiner Bildung. Eigentlich war er ein viel zu guter Lehrer für mich. Ich hatte nicht den Verstand eines idealen Schülers. Aber wir entdeckten beide, dass ich Talent zur Nachahmung hatte. Mir gelang die leidliche Kopie eines Schülers, und ich konnte auch Ichiros Methode kopieren, kühn und
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