Das Schwert in Der Stille
Meter von ihm entfernt auf der anderen Straßenseite. Ich wusste, dass er mich gesehen hatte. Nach ein paar Sekunden stand er langsam auf, als würde er darauf warten, dass ich mich ihm näherte.
Er sah so durchschnittlich aus, wie ich selten jemandem begegnet war: von mittlerer Größe und Figur, mit leicht ergrautem Haar, das Gesicht eher blass als braun, mit unauffälligen Zügen, die man kaum mehr wiedererkennt. Noch während ich ihn betrachtete und ihn einzuschätzen versuchte, schien sich dieses Gesicht vor meinen Augen zu verändern. Und doch befand sich unter dieser betonten Normalität etwas Besonderes, etwas Gewandtes und Schnelles, das sich verflüchtigte, wenn ich versuchte, es genau festzustellen.
Er trug verschossene blaugraue Kleidung ohne sichtbares Wappen. Er sah nicht wie ein Arbeiter aus, auch nicht wie ein Händler oder ein Krieger. Ich konnte ihn überhaupt nicht einordnen, aber ein Instinkt warnte mich, dass er sehr gefährlich sein könnte.
Zugleich war etwas an ihm, das mich faszinierte. Ich konnte nicht vorbeigehen, ohne ihn zur Kenntnis zu nehmen. Aber ich blieb auf der anderen Straßenseite und überlegte bereits, wie weit es bis zum Tor, zu den Wachen und den Hunden war.
Er nickte mir zu und lächelte fast beifällig. »Guten Tag, junger Lord!«, rief er mit spöttischem Unterton. »Sie haben Recht, mir nicht zu trauen. Ich habe gehört, dass Sie in dieser Hinsicht klug sind. Aber ich werde Ihnen nichts tun, das verspreche ich.«
Was er sagte, kam mir so zweifelhaft vor wie sein Aussehen, und von seinem Versprechen hielt ich nicht viel.
»Ich möchte mit Ihnen reden«, sagte er, »und auch mit Shigeru.«
Ich war erstaunt über die vertrauliche Art, in der er von dem Lord sprach. »Was haben Sie mir mitzuteilen?«
»Von hier aus kann ich es Ihnen nicht zurufen«, antwortete er lachend. »Gehen Sie mit mir zum Tor und ich sage es Ihnen.«
»Sie können auf Ihrer Straßenseite zum Tor gehen, ich bleibe auf meiner.« Ich beobachtete seine Hände, damit mir der Griff zu einer versteckten Waffe nicht entging. »Dann werde ich mit Lord Otori reden, und er kann entscheiden, ob Sie sich mit ihm treffen können oder nicht.«
Der Mann lächelte vor sich hin und zuckte die Schultern. Wir gingen getrennt zum Tor, er so ruhig wie auf einem Abendspaziergang und ich so nervös wie eine Katze vor dem Sturm. Als wir angelangt waren und die Wachen uns grüßten, schien er älter und noch farbloser zu sein. Er sah wie ein so harmloser alter Mann aus, dass ich mich fast schämte, so misstrauisch zu sein.
»Du bekommst Ärger, Takeo«, sagte einer der Männer. »Meister Ichiro hat dich eine Stunde lang gesucht!«
»He, Opa«, rief der andere dem Alten zu. »Was willst du, eine Schüssel Nudeln oder was?«
Tatsächlich sah der Alte aus, als könnte er eine ordentliche Mahlzeit brauchen. Er wartete demütig und schweigend direkt vor dem Tor.
»Wo hast du ihn aufgegabelt, Takeo? Du bist zu weichherzig, das ist deine Schwäche! Schick ihn weg!«
»Ich habe gesagt, ich würde Lord Otori melden, dass er hier ist, und das mache ich auch«, antwortete ich. »Aber beobachtet ihn genau und lasst ihn auf keinen Fall in den Garten.«
Ich sagte zu dem Fremden »Warten Sie hier« und fing einen Blick von ihm auf. Er war gefährlich, sicher, aber es kam mir fast so vor, als würde er mich eine Seite sehen lassen, die er vor den Wachen verbarg. Ich fragte mich, ob ich ihn dort zurücklassen sollte. Immerhin, sie waren zu zweit und bis an die Zähne bewaffnet. Sie sollten mit einem alten Mann fertig werden können.
Ich lief durch den Garten, streifte die Sandalen ab und sprang in zwei Sätzen die Treppe hinauf. Lord Shigeru saß im oberen Zimmer und schaute hinaus auf den Garten.
»Takeo«, sagte er, »ich habe mir gerade überlegt, dass ein Teezimmer über dem Garten genau das Richtige wäre.«
»Lord…«, fing ich an, dann erstarrte ich wegen einer Bewegung im Garten unten. Ich glaubte zuerst, es sei der Reiher, so still und grau stand er da, dann erkannte ich den Mann, den ich am Tor verlassen hatte.
»Was?« Mein Gesichtsausdruck war Lord Shigeru nicht entgangen.
Mich packte die Angst, dass der Mordversuch wiederholt werden sollte. »Ein Fremder ist im Garten«, schrie ich. »Lassen Sie ihn nicht aus den Augen!« Meine nächste Furcht galt den Wachen. Ich rannte wieder die Treppe hinunter und aus dem Haus. Mein Herz raste, als ich ans Tor kam. Den Hunden ging es gut. Sie rührten sich, als sie mich
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