Das Schwert in Der Stille
haben. Ich soll mich in seinem Auftrag um Sie kümmern.«
Was können Frauen in dieser Männerwelt tun?, dachte Kaede. Welchen Schutz haben wir? Kann sich irgendjemand sinnvoll um mich kümmern?
Sie erinnerte sich an ihr Gesicht im Spiegel und sehnte sich danach, es wieder anzuschauen.
KAPITEL 3
Der Reiher kam jeden Nachmittag in den Garten; wie ein grauer Geist schwebte er über die Mauer, faltete sich unnachahmlich zusammen und stand wadentief im Teich, so still wie eine Statue von Jizo. Die roten und goldenen Karpfen, die Lord Otori zu seinem Vergnügen fütterte, waren zu groß für ihn, aber minutenlang blieb er regungslos stehen, bis irgendein unglückliches Geschöpf vergaß, dass er da war, und sich im Wasser bewegte. Dann stieß der Reiher zu, schneller, als das Auge folgen konnte, und mit dem zappelnden kleinen Ding im Schnabel machte er sich zum Flug bereit. Die ersten Flügelschläge waren so laut wie das plötzliche Aufschnappen eines Fächers, doch danach verschwand er so leise, wie er gekommen war.
Die Tage waren immer noch drückend heiß wie so oft im Herbst, wenn man es kaum mehr aushalten mag und es doch zugleich genießt, weil man weiß, dass diese heftige, kaum erträgliche Bruthitze die letzte des Jahres sein wird.
Ich war seit einem Monat in Lord Otoris Haus. In Hagi war die Reisernte vorbei, das Stroh welkte auf den Feldern und auf Gestellen rund um die Bauernhäuser. Die roten Herbstlilien verblassten. Auf den Bäumen
färbten sich die Dattelpflaumen golden, während die Blätter spröde wurden; auf den Wegen und Gassen lagen stachlige Kastanienschalen, und ihre glänzenden Früchte platzten heraus. Der herbstliche Vollmond kam und ging. Chiyo legte Kastanien, Mandarinen und Reiskuchen in den Gartenschrein, und ich fragte mich, ob irgendjemand das Gleiche in meinem Dorf machte.
Die Dienstmädchen sammelten die letzten Wiesenblumen, Buschklee, Leimkraut, Herbstwurz, und stellten sie in Eimern vor Küche und Toilette. Dort überdeckte der Duft die Gerüche von Essen und Ausscheidung, ein Kreislauf des menschlichen Lebens.
Mein Zustand des Halb-Seins, meine Sprachlosigkeit, hielt an. Ich nehme an, dass ich trauerte. Der Otorihaushalt tat das Gleiche, nicht nur um Lord Otoris Bruder, auch um seine Mutter, die im Sommer an einer Seuche gestorben war. Chiyo erzählte mir die Familiengeschichte. Shigeru, der älteste Sohn, war mit seinem Vater in der Schlacht von Yaegahara gewesen und hatte es entschieden abgelehnt, vor den Tohan zu kapitulieren. Die Kapitulationsvereinbarungen hatten es ihm untersagt, von seinem Vater die Führung des Clans zu übernehmen. Iida ernannte zwei Onkel Shigerus, Shoichi und Masahiro, zu Clanführern.
»Für Iida Sadamu ist Shigeru der meistgehasste Mensch auf dieser Erde«, sagte Chiyo. »Er ist eifersüchtig und fürchtet ihn.«
Shigeru war als rechtmäßiger Erbe des Clans auch seinen Onkeln ein Dorn im Auge. Er hatte sich scheinbar von der politischen Bühne zurückgezogen und sich um sein Land gekümmert, erprobte neue Methoden und experimentierte mit verschiedenem Getreide. Er hatte jung geheiratet, doch seine Frau starb zwei Jahre nach der Hochzeit im Kindbett, und mit ihr starb der Säugling.
Shigerus Leben schien mir voller Leid zu sein, doch er zeigte das nicht, und wenn ich nicht die Tatsachen von Chiyo erfahren hätte, wären sie mir unbekannt geblieben. Ich verbrachte den größten Teil des Tages mit ihm, war immer bei ihm und folgte ihm wie ein Hund, außer wenn ich mit Ichiro lernte.
Es waren Tage des Wartens. Ichiro versuchte mir Lesen und Schreiben beizubringen; meine schlechte Ausbildung und meine schwache Aufnahmefähigkeit erzürnten ihn, während er sich widerstrebend für die Adoption einsetzte. Der Clan war dagegen: Lord Shigeru sollte wieder heiraten, er war noch jung, es war zu früh nach dem Tod seiner Mutter. Die Einwände schienen endlos zu sein. Ich wurde das Gefühl nicht los, dass Ichiro die meisten davon teilte, und sie erschienen auch mir völlig berechtigt. Ich versuchte nach Kräften zu lernen, weil ich den Lord nicht enttäuschen wollte, aber ich fühlte mich der Situation nicht gewachsen und traute ihr nicht.
Am späten Nachmittag schickte Lord Shigeru für gewöhnlich nach mir; dann setzten wir uns ans Fenster und schauten in den Garten. Er sprach nicht viel, aber er beobachtete mich, wenn er dachte, ich bemerke es nicht. Ich spürte, dass er auf etwas wartete: dass ich etwas sagen, ihm ein Zeichen geben würde - aber
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