Das Schwert in Der Stille
ich wusste nicht, worum es ihm dabei ging. Es machte mich ängstlich, die Angst überzeugte mich noch mehr davon, dass ich ihn enttäuschte, und ich konnte noch weniger lernen. Eines Nachmittags kam Ichiro ins obere Zimmer, um sich wieder über mich zu beschweren. Früh an diesem Tag war er so aufgebracht gewesen, dass er mich geschlagen hatte. Ich saß schmollend in der Ecke, betrachtete meine Prellungen und zeichnete mit dem Finger die Schriftzeichen auf die Matte, die ich an diesem Tag gelernt hatte; verzweifelt versuchte ich sie mir zu merken.
»Sie haben einen Fehler gemacht«, sagte Ichiro. »Niemand wird es Ihnen übel nehmen, wenn Sie es zugeben. Die Umstände beim Tod Ihres Bruders erklären alles. Schicken Sie den Jungen dorthin zurück, wo er hergekommen ist, und konzentrieren Sie sich auf Ihr Leben.«
Und lasst mich meines leben, hätte ich am liebsten gesagt. Ichiro ließ mich nie vergessen, welches Opfer er brachte, wenn er versuchte, mir etwas beizubringen.
»Sie können Lord Takeshi nicht neu erschaffen«, fügte er ruhiger hinzu. »Er war das Ergebnis jahrelanger Erziehung und Ausbildung - und bestes Blut von Anfang an.«
Ich fürchtete, Ichiro würde seinen Willen durchsetzen. Lord Shigeru war mit ihm und Chiyo durch Beziehungen und Verpflichtungen so verbunden wie sie mit ihm. Ich hatte geglaubt, der Lord habe alle Macht im Haus, doch tatsächlich hatte Ichiro seine eigene Macht und wusste sie auszuüben. Und in der entgegengesetzten Richtung hatten die Onkel Macht über Lord Shigeru. Er musste dem Diktat des Clans gehorchen. Es gab für ihn keinen Grund, mich zu behalten, und man würde ihm nie erlauben, mich zu adoptieren.
»Schau dir den Reiher an, Ichiro«, sagte Lord Shigeru. »Du siehst, wie geduldig er ist, wie lange er unbewegt steht, bis er bekommt, was er braucht. Ich habe die gleiche Geduld, und sie ist bei weitem nicht erschöpft.«
Ichiro presste die Lippen fest zusammen, sein üblicher griesgrämiger Gesichtsausdruck. In diesem Moment stieß der Reiher zu und flog mit knallenden Flügelschlägen davon.
Ich hörte das Piepsen, das die abendliche Ankunft der Fledermäuse meldete. Ich hob den Kopf und sah, dass zwei von ihnen in den Garten flogen. Während Ichiro weiter nörgelte und der Lord ihm kurz antwortete, ohne je wütend zu werden, horchte ich auf die Geräusche der nahenden Nacht. Mein Gehör wurde täglich schärfer. Ich gewöhnte mich daran, lernte auszublenden, was ich nicht mitbekommen wollte, und ließ mir nicht anmerken, dass ich alles hören konnte, was im Haus vor sich ging. Niemand wusste, dass ich die Geheimnisse aller Hausbewohner belauschen konnte.
Jetzt hörte ich heißes Wasser zischen, während das Bad vorbereitet wurde, das Klappern des Geschirrs aus der Küche, den gleitenden Seufzer, den das Messer des Kochs verursachte, den Schritt eines Mädchens in weichen Socken auf den Brettern draußen, das Stampfen und Wiehern eines Pferdes im Stall, den Schrei der Katze, die vier Junge fütterte und immer hungrig war, das Gebell eines Hundes zwei Straßen entfernt, das Klappern von Holzschuhen auf den Holzbrücken über den Kanälen, singende Kinder, die Tempelglocken von Tokoji und Daishoin. Ich kannte das Lied des Hauses bei Tag und bei Nacht, bei Sonne und im Regen. An diesem Abend wurde mir klar, dass ich immer auf etwas Weiteres horchte. Ich wartete auch. Worauf? Jede Nacht, bevor ich einschlief, dachte ich an die Szene auf dem Berg, den abgeschlagenen Kopf, den Wolfsmann, der seinen Armstumpf umklammerte. Ich sah wieder Iida Sadamu am Boden und die Leichen Isaos und meines Stiefvaters. Wartete ich darauf, dass Iida und der Wolfsmann mich fassten? Oder auf meine Gelegenheit zur Rache?
Von Zeit zu Zeit versuchte ich noch zu beten wie die Verborgenen, und in dieser Nacht betete ich darum, den Weg gezeigt zu bekommen, den ich gehen sollte. Ich konnte nicht schlafen. Die Luft war drückend und still, der Mond, der vor einer Woche voll gewesen war, versteckte sich hinter dicken Wolkenbänken. Die Insekten der Nacht waren laut und ruhelos. Der Gecko ging auf die Jagd nach ihnen und ich hörte das saugende Geräusch seiner Haftzehen, als er die Decke überquerte. Ichiro und Lord Shigeru schliefen beide fest, Ichiro schnarchte. Ich wollte das Haus nicht verlassen, das ich inzwischen so liebte, aber ich schien ihm nichts als Ärger zu bringen. Vielleicht wäre es besser für alle, wenn ich einfach in der Nacht verschwände.
Ohne dass ich wirklich vorhatte zu gehen
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