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Das Schwert in Der Stille

Das Schwert in Der Stille

Titel: Das Schwert in Der Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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gefallen. Er lag hoch im Garten, jeder Baum war davon bedeckt, jede Laterne trug eine dicke weiße Kappe. Jetzt war der Himmel klar und der Schnee funkelte im Frost. Unser Atem hing beim Reden sichtbar in der Luft.
    Niemand sonst war wach, nur wir drei drängten uns um die Kohlenpfanne und wärmten uns die Hände an Bechern mit heißem Wein. Das Getränk ermutigte mich zu der Frage: »Hat Lord Otori viele Männer getötet?«
    »Ich habe sie nicht gezählt«, antwortete er. »Aber von Yaegahara abgesehen waren es vermutlich nicht so sehr viele. Ich habe nie einen Unbewaffneten umgebracht oder aus Vergnügen getötet, wozu manche verdorben worden sind. Bleib lieber, wie du bist, als so zu werden.«
    Ich wollte fragen: Würden Sie einen Attentäter einsetzen, um Rache zu nehmen? Aber ich wagte es nicht. Es stimmte, dass ich Grausamkeit verabscheute und vor der Idee des Tötens zurückschreckte. Doch täglich erfuhr ich mehr über Shigerus Wunsch nach Rache. Er schien mich damit anzustecken und meinen eigenen Wunsch zu verstärken. In dieser Nacht schob ich in den frühen Morgenstunden die Fenster auf und schaute hinaus über den Garten. Der abnehmende Mond und ein einzelner Stern standen dicht beieinander so tief am Himmel, dass es aussah, als würden sie die schlafende Stadt belauschen. Die Luft war kalt wie ein Messer.
    Ich könnte töten, dachte ich. Iida könnte ich töten. Und dann: Ich werde ihn töten. Ich werde lernen, wie.
    Einige Tage danach überraschte ich Kenji und mich selbst. Mit seiner Fähigkeit, an zwei Orten zugleich zu sein, täuschte er mich immer noch. Der Alte saß in seinem ausgeblichenen Gewand da und beobachtete mich, während ich eine Fingerfertigkeit oder einen Salto rückwärts übte, und dann rief er mich von außerhalb des Gebäudes. Aber diesmal spürte oder hörte ich seinen Atem, sprang auf ihn zu, fasste ihn um den Hals und hatte ihn schon auf den Boden geworfen, bevor ich noch dachte: Wo ist er?
    Und zu meiner Überraschung legten sich meine Hände wie von selbst auf die Stelle an der Schlagader im Nacken, wo Druck den Tod bringt.
    So hielt ich ihn nur einen Moment lang. Dann ließ ich los und wir starrten einander an.
    »Na also«, sagte er. »Das ist besser!«
    Ich schaute auf meine langfingrigen, geschickten Hände, als würden sie einem Fremden gehören.
    Meine Hände machten anderes, was ich ihnen nicht zugetraut hatte. Als ich bei Ichiro das Schreiben übte, zog meine Rechte plötzlich ein paar Striche, und da war einer meiner Bergvögel und wollte gleich vom Papier wegfliegen, oder das Gesicht von jemandem erschien, an den ich mich nicht zu erinnern glaubte. Ichiro gab mir dafür einen Klaps auf den Kopf, aber die Zeichnungen gefielen ihm und er zeigte sie Lord Shigeru.
    Der Lord war entzückt und Kenji ebenfalls.
    »Das ist eine Eigenschaft der Kikuta«, prahlte Kenji, als hätte er sie selbst erfunden. »Sehr nützlich. Es gibt Takeo eine Rolle, die er spielen kann, eine vollkommene Tarnung. Er ist ein Künstler: Er kann überall zeichnen, und niemand wird sich fragen, was er hören kann.«
    Lord Shigeru war ebenso praktisch. »Zeichne den Einarmigen«, befahl er.
    Das wölfische Gesicht schien von selbst aus dem Pinsel zu springen. Lord Shigeru starrte es an. »Ich werde ihn wiedererkennen«, murmelte er.
    Ein Zeichenlehrer wurde engagiert, und in den Wintertagen entwickelte sich mein neuer Charakter. Bis der Schnee schmolz, war Tomasu, der halbwilde Junge, der über den Berg streifte und nur seine Tiere und Pflanzen studierte, für immer verschwunden. Ich war Takeo geworden, still, nach außen hin sanft, ein etwas weltfremder Künstler. Der Deckmantel verbarg Augen und Ohren, denen nichts entging, und das Herz lernte die Lektionen der Rache.
    Ich wusste nicht, ob dieser Takeo echt war oder nur ein künstliches Gebilde für die Zwecke des Stamms und der Otori.

KAPITEL 4

    Die Spitzen des Bambusgrases waren weiß geworden, und die Ahornbäume hatten ihre Brokatgewänder angelegt. Junko brachte Kaede alte Kleidungsstücke von Lady Noguchi, trennte sie sorgsam auf und nähte sie neu, wobei sie die verblichenen Teile nach innen wendete. Als die Tage kälter wurden, war Kaede dankbar dafür, nicht mehr im Schloss zu sein, durch die Höfe zu rennen und die Treppen hinauf- und hinunterzusteigen, während Schnee auf gefrorenen Schnee fiel. Ihre Arbeit wurde geruhsamer: Sie verbrachte ihre Tage mit den Noguchifrauen, war mit Nähen und häuslichen Tätigkeiten beschäftigt, hörte

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