Das Schwert in Der Stille
die Lampen zu löschen. Lange lag ich schlaflos und lauschte der Nacht. Die Enthüllungen des Abends zogen mir langsam durch den Kopf, zerstreuten sich, fanden sich wieder zusammen und zogen weiter. Mein Leben gehörte mir nicht mehr. Ohne Lord Shigeru wäre ich tot gewesen. Wenn ich ihm nicht zufällig über den Weg gelaufen wäre, wie er gesagt hatte, dort auf dem Bergpfad…
War es wirklich zufällig gewesen? Jeder, sogar Kenji, akzeptierte seine Version: Das war alles spontan geschehen, der rennende Junge, die bedrohlichen Männer, der Kampf…
Ich durchlebte es noch einmal in Gedanken. Und ich schien mich an einen Augenblick zu erinnern, in dem der Pfad vor mir frei war. Ein großer Baum stand da, eine Zeder, und jemand trat hinter ihr hervor und packte mich - nicht zufällig, sondern entschlossen. Ich dachte an Lord Shigeru und wie wenig ich wirklich über ihn wusste. Jeder beurteilte ihn nach seinem Auftreten: impulsiv, warmherzig, großzügig. Ich glaubte, dass er das alles war, aber ich fragte mich doch, was dahinter lag. Ich gebe ihn nicht auf, hatte er gesagt. Aber warum wollte er einen vom Stamm adoptieren, den Sohn eines Attentäters? Ich sah den Reiter vor mir und wie geduldig er wartete, bevor er zuschlug.
Der Himmel wurde hell, und die Hähne krähten, bevor ich einschlief.
Muto Kenji wurde als mein Lehrer eingeführt, und die Wachen hatten ihren Spaß auf meine Kosten.
»Hüte dich vor dem Alten, Takeo! Er ist ziemlich gefährlich. Er könnte dich mit dem Pinsel erstechen!«
Das war ein Scherz, von dem sie nie genug bekamen.
Ich lernte, nichts zu sagen. Lieber sollten sie mich für einen Idioten halten als die wirkliche Identität des alten Mannes kennen zu lernen und zu verbreiten. Je weniger die Menschen von einem halten, umso mehr vertrauen sie einem an oder plaudern Dinge aus. Ich fragte mich, wie viele offenbar einfältige, aber zuverlässige Diener oder Gefolgsleute mit ausdruckslosen Gesichtern in Wirklichkeit dem Stamm angehörten und ihr Werk der Intrigen, Listen und plötzlichen Todesfälle ausführten.
Kenji führte mich in die Künste des Stamms ein, doch Ichiro unterrichtete mich immer noch in den Bräuchen des Clans. Die Kriegeridasse war genau das Gegenteil des Stamms. Sie legte großen Wert auf die Bewunderung und die Hochachtung der Welt, auf ihren Ruf und ihren Rang. Ich musste ihre Geschichte und Etikette, ihre Anstandsregeln und Sprache lernen. Ich studierte die Archive der Otori, verfolgte sie Jahrhunderte zurück bis zu ihrer halb mythischen Abstammung aus der Kaiserfamilie, bis mir der Kopf von Namen und Stammbäumen nur so schwirrte.
Die Tage wurden kürzer, die Nächte kälter. Die ersten Fröste bereiften den Garten. Bald würde Schnee die Bergpfade unzugänglich machen. Winterstürme würden den Hafen stilllegen, und Hagi würde bis zum Frühling von der Welt abgetrennt sein. Das Haus hatte jetzt ein anderes Lied, gedämpft, sanft und schläfrig.
Etwas hatte in mir einen wilden Hunger nach Lernen ausgelöst. Kenji sagte, es sei dies eine Eigenart des Stamms, die nach Jahren der Vernachlässigung zu Tage trete. Die Lernbegierde umfasste alles, von den kompliziertesten Schriftzeichen bis zu den Anforderungen des Schwertkampfs. Ich lernte sie hingebungsvoll, doch auf Kenjis Lektionen reagierte ich anders. Ich fand sie nicht schwierig - offenbar hatte ich eine natürliche Begabung dafür -, aber etwas daran stieß mich ab, etwas in mir weigerte sich, so zu werden, wie Kenji es wollte.
»Es ist ein Spiel«, sagte er mir oft. »Betrachte es als Spiel.« Doch das Ende dieses Spiels war der Tod. Kenji hatte mit seiner Einschätzung meines Charakters Recht gehabt. Ich war dazu erzogen worden, Mord zu verabscheuen, und ich hasste es zutiefst, Leben zu nehmen.
Kenji befasste sich mit dieser Seite von mir. Sie beunruhigte ihn. Er und Lord Shiteru sprachen häufig darüber, wie ich härter werden könnte.
»Er hat alle Talente bis auf das«, sagte Kenji eines Abends enttäuscht. »Und durch diesen Mangel werden ihm alle seine Talente gefährlich.«
»Das kann man nie wissen«, entgegnete Shigeru. »Wenn es die Situation verlangt, ist es erstaunlich, wie das Schwert in die Hand springt, fast als hätte es einen eigenen Willen.«
»Du bist so geboren, Shigeru, und deine ganze Ausbildung hat das verstärkt. Ich glaube, dass Takeo in diesem Augenblick zögern wird.«
Der Lord seufzte, rückte näher an die Kohlenpfanne und zog den Mantel um sich. Den ganzen Tag war Schnee
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