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Das Schwert in Der Stille

Das Schwert in Der Stille

Titel: Das Schwert in Der Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lian Hearn
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Ferne. Der Mond war nahe den Bergen, gleich würde er dahinter verschwinden. Die Stadt lag still und schlafend da.
    Als der Mond untergegangen war, prüfte ich den Halt des Hakens an der Brüstung, holte die Giftkapseln hervor und steckte sie in den Mund. Dann kletterte ich an meinem eigenen Seil die Mauer hinunter, wobei ich mir immer wieder Haltepunkte für die Füße suchte.
    Beim ersten Korb nahm ich mein Stirnband ab, das noch nass vom Fluss war, und hielt es dem Mann durch das Geflecht hindurch ans Gesicht. Ich hörte, wie er saugte und etwas Unverständliches sagte.
    »Ich kann dich nicht retten«, flüsterte ich, »aber ich habe Gift. Es sorgt für einen schnellen Tod.«
    Er drückte das Gesicht an die Korbwand und öffnete den Mund für die Kapsel.
    Der nächste Mann hörte mich nicht, aber dort, wo sein Kopf an die Korbwand gesunken war, konnte ich seine Halsschlagader erreichen, und so brachte ich ihn schmerzlos zum Schweigen.
    Dann musste ich wieder auf die Brüstung klettern und mein Seil anderswo befestigen, um die anderen Körbe zu erreichen. Meine Arme schmerzten, und ich war mir der Steinplatten im Hof unten nur zu bewusst. Als ich zu dem dritten Mann, dem Betenden, gelangte, war er hellwach und beobachtete mich mit seinen dunklen Augen. Ich murmelte ein Gebet der Verborgenen und hielt ihm die Giftkapsel hin.
    Er sagte: »Es ist verboten.«
    »Ich nehme die Sünde auf mich«, flüsterte ich. »Du bist unschuldig. Dir wird vergeben.«
    Als ich ihm die Kapsel in den Mund schob, zeichnete er mir mit der Zunge das Zeichen der Verborgenen in die Handfläche. Ich hörte ihn beten, dann wurde er für immer still.
    An der Kehle des Vierten spürte ich keinen Puls und dachte, er sei schon tot, aber um sicherzugehen, benutzte ich die Garrotte, zog ihm die Würgschraube um den Hals und hielt sie fest, während ich leise die Minuten zählte.
    Der erste Hahn krähte. Als ich zur Brüstung zurückkletterte, war die Stille der Nacht vollkommen. Ich hatte das Stöhnen und Schreien zum Schweigen gebracht. Ich glaubte, die plötzliche Stille würde bestimmt die Wachen wecken. Mein eigener Pulsschlag kam mir so laut wie Trommeln vor.
    Ich ging zurück, wie ich gekommen war, benutzte die Haken nicht mehr, sondern sprang von den Mauern auf den Boden und bewegte mich noch schneller als zuvor. Ein zweiter Hahn krähte und ein dritter antwortete. Bald würde die Stadt erwachen. Ich schwitzte stark, und das Wasser im Graben fühlte sich eisig an. Für das Tauchen hatte ich diesmal kaum genug Luft, ich kam ein gutes Stück vor den Weiden an die Oberfläche und erschreckte die Schwäne. Dann holte ich Atem und tauchte wieder.
    Am Ufer ging ich auf die Weiden zu, wo ich ein paar Minuten sitzen bleiben und ausruhen wollte. Der Himmel wurde heller. Ich war erschöpft. Meine Konzentration und meine Sehschärfe ließen nach. Ich konnte kaum glauben, was ich getan hatte.
    Zu meinem Entsetzen hörte ich, dass bereits jemand da war. Kein Soldat, sondern ein Ausgestoßener, dachte ich, vielleicht nach dem Gerbstoffgeruch, der an ihm haftete, ein Lederarbeiter. Bevor ich wieder so weit bei Kräften war, dass ich mich unsichtbar machen konnte, sah er mich, und in diesem kurzen Augenblick wurde mir klar: Er wusste, was ich getan hatte.
    Jetzt werde ich wieder töten müssen. Dass es diesmal keine Erlösung, sondern Mord sein würde, widerte mich an. Blut und Tod konnte ich an meinen Händen riechen. Nein, er sollte am Leben bleiben! Ich ließ mein zweites Ich unter dem Baum und war im nächsten Augenblick auf der anderen Straßenseite.
    Eine kurze Weile horchte ich; der Mann sprach zu meinem Ebenbild, bevor es verblasste.
    »Herr«, sagte er zögernd, »verzeihen Sie mir. Drei Tage lang habe ich meinem Bruder in seiner Qual zugehört. Danke. Möge der Geheime bei Ihnen sein und Sie segnen.«
    Dann verschwand mein zweites Ich, und er schrie erschrocken und verwundert auf. »Ein Engel!«
    Ich hörte sein raues Atmen, fast ein Schluchzen, während ich von Eingang zu Eingang lief. Ich hoffte, die Patrouille würde ihn nicht antreffen, hoffte, er würde nicht erzählen, was er gesehen hatte, vertraute darauf, dass er einer der Verborgenen war, die ihre Geheimnisse mit ins Grab nehmen.
    Die Mauer um die Herberge war so niedrig, dass ich hinaufspringen konnte. Ich ging zum Abort und zum Brunnen, wo ich die restlichen Kapseln ausspuckte und mir Gesicht und Hände wusch, als wäre ich gerade aufgestanden. Der Wachmann war noch schlaftrunken, als

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